Der Weltfrauentag in Afghanistan

Der Arzt Dr. Reinhard Erös und seine Frau Annette engagieren sich privat seit 1987 für und in Afghanistan. Mit der 1998 gegründeten Familienstiftung „Kinderhilfe Afghanistan“, an der auch ihre erwachsenen Kinder teilhaben, betreiben sie medizinische und schulische Projekte im Osten von Afghanistan. Im folgenden beantwortet Dr. Erös Fragen zur Lage der afghanischen Frauen.

Vor wenigen Tagen wurde in der Bundeshauptstadt der Weltfrauentag als offizieller Feiertag begangen. Hat Ihre Hilfsorganisation „Kinderhilfe Afghanistan” diesen Tag auch gefeiert?
Als wohl einzige Hilfsorganisation haben wir auch dieses Jahr den Weltfrauentag an unseren zwei Standorten in Ostafghanistan gefeiert. Alle unsere weiblichen Mitarbeiter – Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern und Lehrerinnen – waren zu einem festlichen Essen mit Musik durch eine Mädchengesangsgruppe eingeladen. Zudem gab es die Verteilung eines extra Monatssalärs.

Haben heutzutage Frauen in Afghanistan überhaupt etwas zu feiern?
Ja. Es gibt keinen Krieg mehr, keine Bombardements durch die US-Luftwaffe, keine Bodengefechte zwischenTaliban und US-Bodentruppen.

In die Zeit seit Gründung der „Kinderhilfe Afghanistan“ fielen die zwanzig Jahre NATO in Afghanistan. Wie haben diese sich auf die Lage der afghanischen Frauen ausgewirkt?
Während des 20jährigen Krieges der NATO/US-Armee 2001 bis 2021 gab es ca. 400 000 Tote, davon ca. die Hälfte Frauen und Kinder.

Worin besteht die Arbeit Ihrer Hilfsorganisation in Afghanistan, und welche Auswirkungen haben die von den Taliban erlassenen Vorschriften darauf?
Unserer Stiftung „Kinderhilfe Afghanistan“ betreibt 30 Schulen, dazu Berufsschulen für Computer-Lehre und Schneiderinnen und drei Krankenhäuser. Da wir von Anfang an getrenntgeschlechtlich gearbeitet haben, hat sich nichts geändert.
Das seit 2022 bestehende Verbot von Mädchenklassen ab Klasse 7 und des Besuchs von Universitäten hat die Berufsaussichten für Mädchen erheblich eingeschränkt. Aber an unserer Universität in Nangarhar dürfen junge Frauen weiter studieren. Und wir können auch weiter Hebammen und Krankenschwestern ausbilden.

Ist es zutreffend, von „den” Taliban zu sprechen? Ist die Haltung der Taliban-Führer zur Rolle der Frauen einheitlich?
Die Talibanführung ist gespalten. Es gibt die Hardliner um den obersten geistigen Führer des Landes in der Provinz Kandahar und die eher moderaten Talibanführer in Kabul. Ich gehe davon aus, daß die besser gebildeten Taliban gegen die Verbote sind. Denn wenn Mädchen nicht mehr Abitur machen können, können sie auch nicht mehr Ärztinnen werden. Es ist in Afghanistan undenkbar, daß kranke Mädchen und Frauen von männlichen Ärzten behandelt werden. Darüber finden auch Diskussionen auf den habstaatlichen Fernsehstationen statt.

Gibt es zur Zeit außer Ihrer Hilfsorganisation andere deutsche Hilfsorganisationen in Afghanistan?
Bei uns in den Ostprovinzen sind nur noch wir tätig.

Wie wirkt sich die „feministische Außenpolitik” auf Afghanistan und speziell die Frauen aus? Was müßte sich gegebenenfalls ändern?
Von einer feministischen Außenpolitik (Baerbock) ist in Afghanistan nichts angekommen. Es gibt keine Unterstützung afghanischer Mädchen und Frauen durch die Bundesregierung. Damit meine ich nicht staatliche Unterstützung unserer Arbeit, denn die lehnen wir ab und finanzieren unsere Projekte ausschließlich durch private Spenden. Aber Deutschland sollte dringend wieder seine Botschaft eröffnen, damit ein Ansprechpartner vorhanden ist.

Lesevorschlag zur deutsch-afghanischen Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis nach Beginn des Afghanistankrieges von 2001: “Brückenkopf Afghanistan“.
Siehe auch: Interview der Mittelbayerischen Zeitung vom 28.3.2024 mit Reinhard Erös.

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