Geschichte eines Hauses: Nassauische Str. 36/Gasteiner Str. 32-34

Als Bewohnerin dieses Hauses war ich neugierig, wann es gebaut wurde, ob es im Krieg beschädigt wurde und vieles mehr. Mit Hilfe von Informationen aus dem Grundbuchamt und dem Bauaktenarchiv ließ sich seine Entwicklung erstaunlich detailliert nachvollziehen.


















Wilmersdorf und das Grundstück bis zur Stadtwerdung 1906

Das um 1200 gegründete Wilmersdorf hatte seinen ursprünglichen Kern an der heutigen Wilhelmsaue. Über viele Jahrhunderte erstreckte sich das Dorf von der Straße am Schoelerpark bis an die Berliner Straße. Die Nassauische Straße, damals noch „Buschweg“, bildete die östliche Begrenzung. Im Süden des Dorfes lag, anstelle des heutigen Parks, der Wilmersdorfer See.

Für die weitere Entwicklung Wilmersdorfs wurde ab 1870 der Kaufmann und Stadtplaner Johann A.W. Carstenn prägend, der ein von Plätzen und Grünflächen durchsetztes Straßennetz konzipierte,die heute noch sichtbare, sog. Carstennsche Figur. Sie erstreckt sich von der Villenkolonie Friedenau bis zur Schaperstraße, die Mittelachse bildete die damalige Kaiser-, heutige Bundesallee. Auch wenn Carstenn 1873 Konkurs anmelden musste und seine Ideen nicht mehr alle umsetzen konnte, heizte seine Planung die Bodenspekulation und die Bautätigkeit an. Insbesondere die Änderung der Berliner Bauordnung 1887, die jetzt auch für die Vororte eine fünfgeschossige Bebauung erlaubte, führte zu einem gewaltigen Bauboom.

Das Grundstück an der ehemaligen Braunschweiger Straße, erste Bodenspekulationen

1888 bot der Kleinbauer Friedrich Wilhelm Blisse einen Teil seines an der Braunschweiger Straße (später Nassauische Straße) gelegenen Grundstücks, das durch einen Feldweg, die spätere Gasteiner Straße, begrenzt wurde, zum Verkauf an. Fünf Jahre später, 1893, reichte ein neuer Besitzer, der Architekt Kurt Lemcke, erstmals Pläne zur Bebauung dieses 1888 qm großen Grundstücks ein. Sein Vorhaben verlief offenbar mangels Erschließung der Straßen im Sande, und das Grundstück wurde ein Jahr später zwangsversteigert. Es sollte noch dreimal den Besitzer wechseln, ehe es Ende 1905 von der späteren Bauherrin erworben wurde.

1906 erfolgte endlich die Erschließung des Blocks zwischen Nassauischer und Holsteinischer sowie Günzel- und Gasteiner Straße als Baugelände. Nun wurde die Entwässerung geregelt und die Straßen mit Bürgersteigen gepflastert. 1906 erhielt das ehemals zum Kreis Teltow gehörige Dorf Wilmersdorf aufgrund seiner rasch gewachsenen Einwohnerzahl das Stadtrecht und wurde zu „Deutsch-Wilmersdorf“.

Der Hausbau 1907

Das Atelier für Architektur und Bauausführung Langnes & Lange reichte im September 1906 den Bauschein bei der zuständigen Behörde ein. Er umfasste detaillierte Pläne sowie statische Berechnungen für ein 4-seitiges und 5-geschossiges Mietshaus, das in seinen wesentlichen Bauelementen auch so gebaut worden und bis heute erhalten ist.

Im Parterre lagen straßenseitig ein Restaurant sowie mehrere Läden, hofseitig Remisen und ein Pferdestall. Darüber erstreckten sich die überwiegend 4-6 Zimmer großen Wohnungen, begehbar durch zwei Eingänge in der Nassauischen und eine Hofdurchfahrt in der Gasteiner Straße. Die Ansicht wurde durch den Einbau eines Ateliers mit einer breiten Glasfront zur Gasteiner Straße und eine Erweiterung des Erkers an der Ecke belebt. Ein Lift, dessen Nutzung baupolizeilich geregelt war, sollte die Bewohner nach oben befördern. Er durfte aber nur von einem ausgebildeten Führer oder einem polizeilich zugelassenen Mieter bewegt werden. Im Hof wurde eine Benzingrube angelegt, in der sich 1910 ein Brand ereignete, da die Vorgaben nicht erfüllt worden waren und eine notwendige Lüftung fehlte.

Margarete Langnes war offiziell die alleinige Eigentümerin des Grundstücks und Bauherrin des Hauses, ihr Ehemann Friedrich musste allerdings bei allen notariellen Aktionen zustimmen.

Dieser hat als Architekt und Maurermeister vermutlich damit gerechnet, besonders kostengünstig und effizient bauen zu können. Dieses Kalkül ging aber nicht auf: Margarete Langnes nahm nach Einreichen der Baupläne mehrfach große Beträge bei Geldinstituten, anschließend bei Privatpersonen, als Darlehen auf. Zahlreiche, am Bau beschäftigte Betriebe ließen sich zur Sicherung von Leistungen im Grundbuch vormerken, so: ein Glasermeister, ein Hoftöpfermeister, die „Doloment Fußboden- Deutsche Steinholzwerke“, ein Baugeschäft, ein Jalousienhersteller sowie eine Hebezeugfirma. Bei Fertigstellung war der Bau so überschuldet, dass er am 9. Oktober 1908 zwangsversteigert und von einem der Darlehensgeber übernommen wurde.

Das Haus und sein Zustand bis 1979: Renovierung Fehlanzeige!

Die folgenden Besitzer des frisch erbauten Hauses wechselten schnell. Sie sind wahrscheinlich alle an der hohen Hypothekenlast, die ihnen die Bauherrin hinterlassen hat, gescheitert.

Nach erneuter Zwangsversteigerung 1917 wurde die Nassauische Str. 36 Grundstücksgesellschaft m.b.H. neue Eigentümerin. 1933 mussten aber Joel Hepner und Nessanel Essmann, die jüdischen Eigner dieser Gesellschaft, Hals über Kopf das Land verlassen. Schon ein halbes Jahr nach der Zwangsversteigerung im April 1935 wechselte das Haus wieder den Besitzer. Der neue Eigentümer Joseph Salomon war 1938 wegen seiner jüdischen Abstammung gleichfalls gezwungen, das Haus zu versteigern.

Zu dieser Zeit scheint das Haus in marodem Zustand gewesen zu sein. Beschwerden der Mieter über Mängel und Schäden hatten sich ab Mitte der 20-er Jahre gehäuft, von eingeschlagenen Fenstern im Keller, über Feuchtigkeit in einer Wand, verstopften Klosetts, kaputte Dachziegeln mit folgendem Wassereinbruch, bis hin zu einer teilweise abgestürzten Balkonbrüstung, die ein darunter stehendes Auto beschädigte. Bei der Vergabe eines Darlehens wurden 1935 folgende Auflagen gemacht: Die Treppenaufgänge wären in Ordnung zu bringen und Schornsteine umzusetzen, bis Ende 1936 wäre die Hoffassade, anschließend die Vorderfassade zu erneuern. Die Besitzer ihrerseits aber klagten, dass das Haus unwirtschaftlich sei, da die Mieten nicht genügend Einnahmen abwerfen würden, bzw. große Wohnungen gar nicht mehr zu vermieten wären. Als Gegenmaßnahme beantragten sie den Ausbau weiterer Garagen und die Aufteilung der großen Wohnungen. Renoviert wurde offensichtlich nicht.

Über die 40-er Jahre ist wenig bekannt. Die schweren Bombardements von Wilmersdorf scheinen das Haus im Wesentlichen verschont zu haben, obwohl allein vom November 1943 bis Februar 1944 hier 1500 Häuser und 20.500 Wohnungen total zerstört wurden.

Die Jahre von 1950-1958 waren von der juristischen Auseinandersetzung um den Anspruch auf Rückerstattung und die Aufteilung des Besitzes innerhalb der Erbengemeinschaft des verstorbenen Josef Salomon gekennzeichnet. Erst die folgende Besitzerin ging Ende der 50-er Jahre langsam die dringend nötige Sanierung an. Die Renovierung der Fassade ist mit Zeichnung und Bauschein amtlich für das Jahr 1962 bezeugt. Die Ansichten von 1925 und 1962 unterscheiden sich in einem Punkt wesentlich: Sämtliche schmückende Stuckelemente wurden entfernt. Unter der „Handelsstätte Königshaus. Grundstücksgesellschaft m.b.H. “, die von 1968-78 das Haus besaß, scheint sich nicht viel verändert zu haben.

Umwandlung des Mietshauses in Eigentumswohnungen und Dachausbau 1979-1989

Nach einer Zwangsvollstreckung 1978 kam mit Helmut Türpe eine neue Art von Besitzer ins Spiel: Er hatte offensichtlich nichts anderes vor, als den behördlichen Akt der Umwandlung der einzelnen Mietswohnungen in Eigentum voranzutreiben. Parallel dazu bereitete er die Baugenehmigung für den Ausbau des Dachgeschosses sowie den Anbau eines ehemals vorhandenen, aber bereits abgetragenen Liftes vor. Auch eine Modernisierung der einzelnen Wohnungen wurde von ihm 1979 in Angriff genommen. Dass die damit einhergehenden Maßnahmen nicht bei allen Mietern Gefallen fanden, liegt auf der Hand. Die Sanierungskosten wurden prozentual umgelegt, die drohende Umwandlung erzeugte Unsicherheit für Mieter. Eine der Mieterinnen bezahlte Jahre später mit ihrer Weigerung, auszuziehen, sogar mit dem Leben.

Zeitgleich, im September 1979, erschreckten Rissbildungen in der Fassade des Hinterhauses vom 1. OG bis unter das Dach und eingesunkene Fensterstürze vom 2. bis ins 4. OG die Mieter. Für die Schäden verantwortlich waren die Baumaßnahmen, insbesondere das Anlegen der Tiefgarage des SB-Ladens in der Berliner Straße (heute Edeka). Die Versicherung wurde eingeschaltet und die Fensterstürze waren 2 Monate später tatsächlich erneuert. Die Risse allerdings blieben.

Im Mai 1981 verkaufte Helmut Türpe die Immobilie an die Grundstücksgesellschaft Gasteiner Str.33/34/ Nassauische Str.36, deren erklärter Zweck die weitere Sanierung und schließlich die Verwertung der Wohnungen war. Die Umwandlung des Hauses in Eigentumswohnungen erfolgte dann in den Jahren 1980 bis 1984. Mit der vollendeten Aufteilung verkaufte die Gesellschaft die Mietwohnungen en bloc, ebenso den Dachrohling, dessen Ausbau die Firma AUBA 1986-87 übernahm. Erst 1989 war es soweit und die Eigentumswohnungen wurden an die verschiedenen Interessenten verkauft.

Die Wohneigentümergemeinschaft

Von diesem schwarzen Schaf abgesehen, hat sich im Lauf der Jahre eine sehr rührige und engagierte Eigentümergemeinschaft entwickelt. Fast die Hälfte der Eigentümer lebt, zum Teil seit vielen Jahrzehnten, selbst im Haus. Dr. Gilbert Schmidt, der leider zu früh verstorbene Tierarzt im Haus, tat sich darunter besonders hervor. Er regte die Neugestaltung des Hofes als naturnaher Garten mit Teichanlage und eigenem Bewässerungssystem an, der seit seiner Fertigstellung 2001 viele Freunde gefunden hat. Auf ihn ist auch die 2008 abgeschlossene Erneuerung der straßenseitigen Fassade „im alten Stil“ zurückzuführen. Fotos des Hauses von 1925 dienten als Vorbild, um die 1962 abgetragenen Stuckverzierungen wiederherzustellen. Seitdem erfreut insbesondere das Relief von Adam und Eva in der Gasteiner Straße viele Vorbeilaufende.

Literatur:
– Demps, Laurenz (Hs.), Luftangriffe auf Berlin. Die Berichte der Hauptluftschutzstelle 1940-1945. Schriftenreihe des Landes Berlin 16. Berlin 2014
– Lieberknecht, Rolf u.a., Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur. 120 Jahre Stadtentwicklung in Wilmersdorf. Berlin, Bezirksamt Wilmersdorf 1986
– Katalog zur Ausstellung: Von der Wilhelmsaue zur Planung von Carstenn. 100 Jahre Stadtentwicklung im Rathaus Wilmersdorf 1987
– Simon, Christian, Wilmersdorf. Zwischen Idylle und Metropole. Berlin 2015

Archiv, Online-Recherche:
– Grundbuchamt Berlin-Wilmersdorf Bd. 33, Blatt 999, später Bd. 151 Blatt 4537, Vol. I-VII
– Bauaktenarchiv Berlin-Wilmersdorf, Acta Specialia Nassauische Str.36/ Gasteiner Str. 32-34, Acta I-XI
– Bezirksamt: Geschichte Wilmersdorfs im Überblick

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