Ganz Skadinavien, bisheriger Vorreiter in Sachen Digitalisierung der Schule, wendet sich jetzt ab von diesem Heilsversprechen – zu groß sind die dadurch bei Kindern und Jugendlichen verursachten Schäden. Werden die deutschen Bildungsbehörden und die Lehrergewerkschaft daraus lernen?
In ihrer Ausgabe vom 17.2.2024 berichtete die Berliner Morgenpost von Zwischenergebnissen einer wissenschaftlichen Untersuchung der Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin zur Arbeitsbelastung Berliner Lehrer durch Digitalisierung des Unterrichts.
Hintergrund der Untersuchung ist der „DigitalPakt Schule“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahr 2019, der im Mai 2024 auläuft. Auf der offiziellen Seite heißt es: „Mit dem DigitalPakt Schule unterstützt der Bund die Länder und Gemeinden bei Investitionen in die digitale Bildungsinfrastruktur. Ziele des Digitalpaktes sind der flächendeckende Aufbau einer zeitgemäßen digitalen Bildungsinfrastruktur unter dem Primat der Pädagogik.“ Und außerdem soll den Lehrern auch noch die Arbeit erleichtert werden.
Unpassende Widersprüche?
Die Göttinger Wissenschaftler präsentieren – nach Befragung von sieben Prozent der Berliner Lehrerschaft (2.385 von 34.500) – denkwürdige Ergebnisse: Einerseits gaben 66 % der Sekundar- und 45 % der Grundschullehrer an, digitale Medien täglich im Unterricht zu benutzen, andererseits jedoch empfanden 71 % aller Befragten die Digitalisierung als zusätzliche Belastung. Und weiter: 75 % der Befragten beabsichtigen, „noch mehr digitale Elemente in den Unterricht einbauen zu wollen“, aber gleichzeitig fühlten sich 78 % durch die „Dauerpräsenz digitaler Medien“ gestreßt.
Vom wissenschaftlichen Leiter der Untersuchung werden diese offensichtlichen Widersprüche gar nicht aufgegriffen, sondern er beschränkt seine Vorschläge rein auf die organisatorische und technische Umsetzung des Digitalpakts, also: mehr Weiterbildung!, bessere Ausstattung! Und die Lehrergewerkschaft? Ihr Vorstandsmitglied ebenfalls; sie fordert auch nur das zuständige Mitglied der Landesregierung eindringlichst auf , sich mit der GEW zusammenzusetzen: „Sprechen Sie mit uns darüber, wie der notwendige Schulentwicklungsprozess hin zu einer digitalisierten Schule aussehen kann.“
Zeitgeistiger Heilsbringer digitalisierte Schule
Die digitalisierte Schule ist also notwendig? Offenbar gilt ihnen allen – Experten, Gewerkschaft, Schulbehörde, Politikern, Digitalunternehmen und Leitmedien – die Digitalisierung der Schule als das Nonplusultra, wird ihr doch nachgesagt, sie würde motivieren, das Lernen erleichtern, zu besseren Leistungen verhelfen, Kindern ermöglichen, ihre Identität zu erkunden, die Kreativität fördern, die Kommunikationsfähigkeiten verbessern, die Medienkompetenz entwickeln … und vieles mehr. Und wenn es auch noch keine landesgesetzliche Pflicht für Lehrer zum digitalen Unterricht gibt, haben doch einzelne Schulen für sich bereits das Profil „digitale Schule“ beschlossen und damit ihren Lehrkörper auf digitalen Unterricht verpflichtet.
Dabei gibt es auch hierzulande schon länger Kritik an der Digitalisierung der Schulen. Auf der organisatorischen Ebene kritisierte zum Beispiel der damalige Vorstand des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen im September 2020, daß die IT-Konzerne Apple und Microsoft die Lehrerfortbildung nutzen, um Lehrer auf ihre jeweiligen Produkte einzuschwören, und daß „immer mehr digitale Lehr- und Lernangebote gemacht werden, die überhaupt nicht qualitätsgesichert sind. 22 von 30 Dax-Konzernen sind inzwischen mit eigenen Lernmaterialien unterwegs.“
Skandinavien: Schüler als „digitale Versuchskaninchen“
Und wie sieht es auf der pädagogischen Ebene aus? Da bietet sich natürlich der Blick auf die Vorreiter der digitalisierten Schule an, also auf Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland. In allen vier Ländern hat sich im Laufe von 2023 die Einsicht verbreitet, daß die digitalisierte Schule vor allem den IT-Konzernen genutzt, den Schülern aber geschadet habe. Der dänische Bildungsminister entschuldigte sich im Dezember 2023 sogar dafür, daß die Kinder und Jugendlichen mit unabsehbaren Folgen von der Regierung zu „digitalen Versuchskaninchen“ gemacht wurden. Einen wesentlichen Anstoß zu dieser Erkenntnis gab im April 2023 eine Stellungnahme des schwedische Karolinska-Instituts. Dies sind einige Kernsätze der Stellungnahme:
- Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.
- Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wurden.
- Das Lesen und Schreiben auf einem Bildschirm hat negative Auswirkungen auf das Leseverständnis. Es ist schwieriger, sich an Informationen zu erinnern, die auf einem Bildschirm gelesen oder geschrieben wurden, als die in einem Buch gelesenen Informationen. Studien zeigen auch, dass es sich schlechter auf das Lernen auswirkt, wenn Schüler Notizen am Computer statt mit Papier und Bleistift machen.
- Die frühe Nutzung von Bildschirmen ist mit einer schlechteren Sprachentwicklung verbunden.
- Einer der Mitarbeiter an der Stellungnahme faßt es so zusammen: „Je mehr eine Schule ihren Unterricht auf das Internet und Computer stützt, desto schlechter ist die Leistung der Kinder.“
Es muß allerdings betont werden, daß die Hinweise des Karolinska-Instituts absolut nicht neu sind, sondern daß entsprechende Forschungsergebnisse schon jahrelang vorliegen, bisher aber beharrlich von Schulbehörden, Experten, Gewerkschaften, Politikern und Leitmedien unbeachtet gelassen wurden. Erst die fortwährend schlechteren Ergebnisse bei PISA-Tests hatten in Skandinavien den Anstoß zum Umdenken gegeben und zu drastischen Einschränkungen digitaler Medien und insbesondere deren völlige Verbannung aus den Vorschulklassen geführt (jetzt auch die Niederlande und Spanien).
Haben deutsche Schulen eine Fürsorgepflicht?
Und in Deutschland? Im November 2023 haben 40 Wissenschaftler ein „Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen“ gefordert: „(Es) verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien. Im Sinne der Fürsorgepflicht öffentlicher Bildungseinrichtungen fordern wir daher ein Moratorium der Digitalisierung insbesondere der frühen Bildung bis zum Ende der Unterstufe (Kl. 6)“ Sie verweisen neben der Stellungnahme des Karolinska-Instituts auch auf eine Studie der obersten Gesundheitsbehörde der USA zum Einfluß von digitalen Medien auf die psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (2023) und auf den UNESCO-Bericht „2023 Global Education Monitor“, der festellt, daß bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und der Datenökonomie im Mittelpunkt stünden. Zusammengefaßt fordern die 40 Wissenschaftler: „Es ist daher dringend notwendig, die einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in KITAs und Schulen zu revidieren, um interdisziplinär und wissenschaftlich fundiert, mit Fokus auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse über IT und KI in Bildungseinrichtungen zu diskutieren.“
Digitalisierung der Schule vs. Wohlergehen der Schüler: wer obsiegt?
Der Digitalpakt läuft im Mai 2024 aus und wird allein aus Geldmangel nicht unmittelbar fortgesetzt. Nach Angaben des Bundesbildungsministeriums sei das im Koalitionsvertrag vereinbarte Folgeprogramm, der „Digitalpakt 2.0“, nicht für 2024, sondern für 2025 geplant. Die Bundes-GEW kritisierte das als „Förderlücke von mindestens sieben Monaten. Dies werden wir nicht hinnehmen.“ Das ist mehr als erstaunlich für eine Pädagogenorganisation, wo doch der Digitalpakt selbst seine Umsetzung „unter dem Primat der Pädagogik“ sieht. Aus der Pädagogik – unterstützt von Medizinern, Psychiatern, Sozial- und Neurowissenschaftlern – gibt es eine Vielzahl von Bedenken und dringenden Warnungen: siehe die langjährigen Erfahrungen in Skandinavien, die zur Abwendung von der Digitalisierungsideologie führten, und den eindringlichen Aufruf deutscher Wissenschaftler zum Innehalten, ergänzt durch wachsende Zweifel aus der täglichen Schulpraxis, daß digitale Medien zur Verbesserung des Unterrichts beitragen.
Wird all dies bei den deutschen Bildungsbehörden und bei der Lehrergewerkschaft auf lernfähiges Personal stoßen?
Verweise:
Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München (Droemer Knaur) 2012
–, Sport und Gehirn – was weiß die Neurowissenschaft?, Vortrag vor dem Landessportbund Berlin am 8. Dezember 2017
Hallo Michael,
ich stimme dem zu, dass man den Kindern das Kopftraining (z.B. beim Rechnen) durch Benutzung von digitalen Hilfsmitteln nicht abgewöhnen darf.
Nicht umsonst stehen wir in der Pisa-Studie immer wieder schlecht dar. Die Lehrer versuchen, den Schülern -besonders den Sprachneulingen- die Verfolgung des Unterrichtes zugänglicher zu machen. Aber das darf nicht Aktuell-Demenz der Schüler führen.
Gruß
Rudolf