Frau V.

Was bleibt eigentlich von einem Menschen, wenn er tot ist? Einem Menschen, der ein paar Fotos und Briefe hinterlassen hat, ein Vergrößerungsglas, um in den letzten Lebensjahren wenigstens ein bißchen lesen zu können, und nur wenige weitere Gegenstände? Es bleiben in erster Linie Erinnerungen, auf wenige Menschen beschränkt, deren Zahl im Laufe der Jahre außerdem immer kleiner wird.  

Frau V. wurde vor über hundert Jahren in einem kleinen Ort in Westpreußen geboren. Immerhin, dieser kleine Ort hatte zwei Kirchen, ein Postamt, ein Hotel, ein Rathaus, allerdings kein fließend Wasser in den Wohnhäusern der einfachen Leute. So wurde Frau V. als Kind zum Wasserholen an den entfernten Dorfsee geschickt. Mit vierzehn war sie dann zum ersten Mal „in Stellung” im Nachbardorf; es gefiel ihr nicht, Heimweh, aber was konnte sie tun … Später dann, nach dem Ersten Weltkrieg, arbeitete sie als Haushälterin bei mehreren Herrschaften in der Reichshauptstadt, schließlich zum Ende des Zweiten Weltkrieges in einer westdeutschen Hafenstadt.- Haushälterin zu sein bedeutete, nach einer kurzen Einweisung die alleinige Verantwortung für all die alltäglich anfallenden Tätigkeiten, die das Leben mit sich bringt, zu übernehmen: Heizen, Waschen, Putzen, Einkaufen, Kochen, Backen, Haustier, Kinderbetreuung – von fünf Uhr morgens bis nach Mitternacht. Aber für Frau V. war seit ihrer Kindheit schwere Arbweit ganz normal gewesen, und wenn es mal zu dick kam, half ihr ihr trockener Humor.
Frau V. wurde zum guten Geist dieser Familie, war immer da und ermöglichte den Eltern die Berufstätigkeit: Ohne sie hätte es diese Familie so nicht geben können. Aber sie arbeitete nicht nur für diese Familie, sondern hatte auch teil am fremden Familienleben, das zum eigenen wurde, besonders da das Großziehen der Kinder ganz überwiegend bei ihr lag. Frau V. wurde durch ihre Arbeit gewissermaßen zur eigentlichen Mutter der beiden Kinder. Diese Aufgabe nahm sie liebevoll und fürsorglich und, wo nötig, auch mutig wahr.

Man sagt so, daß jemand nach einem „arbeitsreichen Leben” in den „wohlverdienten Ruhestand” geht.- Frau V. ging mit sechzig in Rente, um hierher zurückzukommen und einen früheren Bekannten zu heiraten. Aber ihr Mann starb schon nach einem Jahr. Es zeigte sich, daß ihre Arbeit in diese Familie ihr Leben und ihre Familie gewesen waren. Zunehmende Taubheit, schwächer werdende Augen und fortschreitende Arthrose führten im Laufe der folgenden Jahre dazu, daß Frau V., die früher mitten im Leben gestanden und sich für ihre Umwelt interessiert hatte, immer mehr vereinsamte und auch kaum noch lesen und fernsehen konnte. Besuche ihrer ‚Kinder’, später auch eines ‚Enkels’, den sie vergötterte und dessen ‚Großmutter’ sie gern gewesen wäre, durchbrachen nur gelegentlich das viele Alleinsein und Die-Zeit-verstreichen-Lassen. So wuchs ihre Verzweiflung, und sie stellte sich vor, aus dem Fenster zu springen, um endlich tot zu sein. Aber, fügte sie hinzu, wie sollte sie mit diesen Knien aufs Fensterbrett kommen? So viel war ihr von ihrem Humor noch geblieben.
Ihr Wunsch, endlich zu sterben, erfüllte sich erst, als sie einundneunzig war.

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