Die Geschichte der Berliner Straße 66-65 im April/Mai 1945

Der folgende Text ist ein Auszug aus den 24seitigen maschinengeschriebenen Aufzeichnungen des Rechtsanwalts Dr. Gerhard Frentzel, der zum Kriegsende im Haus Berliner Straße 65 wohnte – also in einem der Häuser, die nach dem Willen ihrer heutigen Eigentümer durch Balkone modernisiert werden sollen. Dr. Frentzel verfaßte das Manuskript im Moment des Geschehens. Dieser Ausschnitt aus seinem Bericht konzentriert sich auf die Kriegsauswirkungen auf das Haus.

Berliner Straße 66-65
20.-24. April 1945

Seit Tagen verschärfen sich die Lebensbedingungen zusehends: Die Verkehrsmittel sind nur noch auf besonderen Ausweis zugänglich. Der elektrische Strom wird noch seltener, als er schon in der letzten Zeit war, benutzbare Telefonapparate werden gepriesene Kostbarkeiten. Die Lebensmittelversorgung wird zum ernstesten Problem. Ein Gericht rote Rüben zum Mittag- und Abendessen wird dankbar als Erfolg der Findigkeit und Mühe der Hausfrau genossen.

Die Luftgefahr spitzt sich derweilen ständig zu, die allnächtlichen Alarme verlängern sich um Stunden, da die Engländer nunmehr einen Verband nach dem andern einfliegen lassen; hinzu kommen die russischen Einflüge aus dem Osten. Nacht für Nacht treten neue Zerstörungen auch in unserer näheren Umgebung und auch in Charlottenburg ein. Die Nöte steigern sich, je mehr der Warndienst der Stromsperre zum Opfer fällt; nun mit einem Mal nur noch Meldungen über einen schon in nächster Nähe befindlichen Feind; schliesslich aber das allergefährlichste, Bombenwürfe und Flakfeuer ohne jegliche Warnung.

Am Sonnabend, dem 21. April, mischt sich ein neuer, den Berlinern bisher unbekannter Ton in das gewohnte ständige Konzert der Propeller- und Motorengeräusche; der Artilleriekampf hat das Weichbild Berlins erreicht! Wir hören das Heulen anfliegender Geschosse, Einschläge und Abschüsse, und beruhigen uns mit der an sich richtigen Erwägung, dass Fliegerbomben schlimmer sind.

Sonntag, 22. April, bringt eine merkliche Steigerung. Am Steinplatz steht eine schwere Batterie in Stellung, die Leuchtspurmunition der Flak zeichnet sich am Himmel ab, alle paar Minuten ein Höllenlärm, Abschüsse und Einschläge nicht zu unterscheiden. Die Geschütze des Tiergarten-Bunkers schiessen auf Erdziele, die feindliche Artillerie scheint sich auf den Bunker einzuschießen. Dabei verkehrt die 77, am Kurfürstendamm herrscht noch lebhafter Fussgängerverkehr.

Immer unheimlicher werden die Nächte und immer unsicherer die Schutzmassnahmen der Menschen. Wir verbringen zunächst eine halbe Nacht im Bunker, es geschieht nicht Ernstliches in unserer Gegend. Nach zwei Nächten ohne grössere Störungen glauben wir die akute Gefahr etwas behoben. Die Russen hatten vom Vorfeld schon soviel besetzt, dass englische und amerikanische Luftangriffe auf Berlin nicht mehr zu erwarten waren. Aber am Abend des 24. April zwischen 10 und 11 Uhr mehren sich die Propellergeräusche. Die Sirenen schweigen, auch ist kein sonstiges Warnzeichen bemerkbar, Strom bleibt schon lange aus. Zu dem Heulen der Geschosse und den Einschlägen treten Bombenabwürfe. Wir bringen die Kinder und Fräulein K zu den vorbereiteten Schlafplätzen im Keller. Nach kurzer Zeit erneute Bombenwürfe in der Nähe. Wir beschliessen, selbst in den Keller zu gehen, A steht fertig vorbereitet in der Diele, ich bin auf der Schwelle zwischen meinem Schlafzimmer und der Diele, als eine Bombe mitten in die andere Hälfte des Hauses* trifft. Zuerst nur das allzu bekannte Krachen, Bersten und Brechen, dann eine Wolke von Staub, die die Dunkelheit noch fühlbarer macht. A ist aus der Diele bis in meine Zimmertür geschleudert, wo ich sie auffange; zugleich sehe ich nach Abzug der Staubwolke durch die Scheiben der unversehrten Wohnungstür das Mondlicht fallen, wo sonst nur ein dunkles Treppenhaus gewesen war. Das Haus Nr. 66 hört an den Wohnungstüren der rechten Haushälfte auf; die gegenüberliegenden** Wohnungen, das Treppenhaus und das Dach sind verschwunden. Unsere Türschilder und die Klingel ragen als letzte Zeichen menschlicher Ordnung in den Luftraum. Jäh steht vor uns die furchtbare Frage: Was ist aus dem Keller geworden, sind die Kinder tot oder verschüttet? Wir können die Wohnung nicht verlassen, denn eine zweite Treppe hat das Haus nicht, und zum Sprung ist es zu hoch. Aus dem unbeschädigten Hauseingang von Nr. 65 kommen die Einwohner hervor; unser Ruf: „Wo sind unsere Kinder?“ wird mit „alle unversehrt“ beantwortet. Frau Professor L macht sich sofort an die Frage unserer Bergung. Wir bekommen eine Strickleiter herauf, der wir uns aber nicht anvertrauen. Wir bleiben uns selbst überlassen, unsere Kinder schickt man zum Bunker, die übrigen gehen in den Keller des gegenüberliegenden Hauses. Bei uns bleibt nur Professor F, der sich unserer Lage sehr fürsorglich annimmt und schliesslich als erster über die Trümmer hinauf bis in unsere Wohnung klettert.

25. April 1945

Nachdem wir selbst den Erdboden erreicht haben, gewinnen wir den ersten Eindruck: Gs und Fräulein B allem Anschein nach erschlagen unter den Trümmern, der Nsche Keller, der soviel unersetzliches Gut der Eltern und von uns birgt, verschüttet, der Luftschutzkeller am Eingang eingedrückt, aber sonst unbeschädigt. Ich melde den Tatbestand der Polizei, aber für die Bergung von Leichen kommt nur noch Selbsthilfe in Frage.
Es legt sich das Bewusstsein des Verlustes vieler unersetzlicher Sachen immer schwerer auf uns. Immer wieder versuchen wir, in den Keller einzudringen, immer öfter aber rücken die Kampfgeräusche in bedrohliche Nähe, die Flieger, die seit längerer Zeit über dem Westen Berlins kreisen, gehen zum MG-Feuer über. Immer öfter müssen wir unsere Beschäftigung verlassen und in den Keller eilen. O war bei Ls auf ein Sofa gebettet, damit er etwas Nachtruhe nachhole; das Geräusch einer nahenden Granate lässt ihn aus dem Zimmer eilen, als die Zimmerwand, schon getroffen, einstürzt. Wieder eine große Gefahr durch glückliche Fügung um Haaresbreite abgewendet. Nun klafft auch im Haus Nr. 65 ein grosses Loch. Die gestern fast noch unbeschädigte Häusergruppe hat nun auch dem Erdbeschuss ihren Tribut leisten müssen.
Die Lage ist unhaltbar geworden, ein weiterer Verbleib in der Berliner Strasse unmöglich. Was nun? Also in den Bunker! Die Gärtnerei Schamp*** leiht einen Handwagen.

26.-30. April 1945

Der „Getreide-Bunker“ ist das Kellergeschoss der Reichsstelle für Getreide**** am Fehrbelliner Platz Das Haus stammt etwa aus 1937, die Keller weisen alle Erfordernisse des Luftschutzes auf, auch die Fussböden der Stockwerke sind aus Beton. Die Räume schützen wirklich gegen Artilleriefeuer. Treffer in die Stockwerke oder Hof erschüttern das Gebäude zwar wiederholt, ohne dass im Keller irgendein Schaden eintritt.
So hausen wir nun in inniger Gemeinschaft mit einem bunt durcheinander gewürfelten Kreis von Menschen. Zwei Gruppen sind voneinander erkennbar, die „kleinen Leute“, meist aus der Mannheimer Strasse, und die Leute aus den Einfamilienhäusern der Barstrasse und aus unseren Professorenhäusern.

Mehrfach muss die Berliner Strasse besucht werden. Bei jedem Gang erkennt man die Fortschritte des Feindes. Die Berliner Straße ist durch Nahkampfeinheiten belegt, die Feuerstösse in den Kirchhof hinein abgeben. Als die Barstrasse nicht mehr geheuer ist, pirscht man sich durch die Brienner Strasse und biegt baldmöglichst in die Gärten ab. In den letzten Tagen sieht man die Granaten reihenweise in die Berliner Straße einschlagen und nimmt innerlich Abschied von dem Haus, in dem und mit dem wir 20 Jahre lang soviel Frohes und Trübes erlebt haben.
Am anderen Morgen werden wir [von russischen Soldaten] aufgefordert, nachzusehen, wer noch eine bewohnbare Unterkunft hat. Wir betreten das Haus wieder. Welch ein Anblick! Im Garten mehrere gefallene Volkssturmmänner, darunter einer mit offenem Schädel, die Wand der Nr. 65 erneut getroffen, das Lsche Zimmer hängt halb in die Luft.. In unserer Wohnung ein blindgegangenes Artilleriegeschoss, im Fussboden des Korridors eingebettet, der Zünder nach oben. Im Oberstock sieht man vom Schrankzimmer in den Himmel, Dach, Dachsparren und Zimmerdecke sind durchbohrt. Überall liegen die Trümmer der wenigen Fensterscheiben, der Pappen und auch von Möbelstücken herum. Es fliegen Daunen aus den von Splittern getroffenen Betten umher. Und trotzdem: Esszimmer, Küche und Badezimmer sind im wesentlichen unversehrt, wir bleiben also zunächst in der Wohnung. Im Esszimmer werden fünf Lagerstätten bereitet und in der Küche wird gegessen.

1. bis 16. Mai 1945

Keine Sirene unterbricht mehr die Ruhe der Nächte. In unserer schwer zerstörten und gartenreichen Gegend breitet sich eine fast gespenstische Stille aus.
Es regt sich daneben das Gefühl einer tiefen Dankbarkeit und Erleichterung. Wir haben alle unversehrt und ungetrennt den Zusammenbruch überlebt, und der seelische Druck des Dritten Reiches ist von uns genommen. Ich bin wieder gleichwertiger Deutscher, unsere Zukunft ist nicht mehr durch die Gesetze Adolf Hitlers eingeengt. Aber weil wir Deutsche sind, tragen auch wir an dem tiefen Sturz unseres Vaterlandes, auch uns trifft die Frage, ob wirklich nur die Führung an diesem tiefen Sturz schuldig ist oder wir nicht alle seit 1933 uns allzu willig haben missbrauchen lassen.

Sehr herzlichen Dank an den Enkel von Dr. Frentzel für die Erlaubnis, den Text abzudrucken, und an einen heutigen Hausbewohner dafür, daß er den Text der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.

* D.h.: das westliche Ende von Haus Nr. 66; dieser Teil wurde nicht wieder vollständig aufgebaut, so daß das Gebäude heutzutage kürzer ist als bei seiner Errichtung.
** Also die am westlichen Ende des Hauses liegenden.
*** Besteht heute noch an derselben Stelle als Blumenhaus Schamp (Berliner Straße 104).
**** Fehrbelliner Platz 3; jetzt Bundesnetzagentur Dienststelle Berlin.

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