Zu Kriegsende war die gesamte Reichshauptstadt mit Zwangsarbeiterlagern übersät, auch unser Bezirk: Schon Ende 1942 gab es in Wilmersdorf und Charlottenburg zusammen 65 Lager mit 11.000 Zwangsarbeitern. Einige große Barackenlager befanden sich im Grunewald, aber die meisten waren in Festsälen, Hotels, Gaststätten, Fabrikschuppen, Schulen usw. untergebracht – also mitten in der Stadt. Die deutsche Bevölkerung begegnete den Zwangsarbeitern auf Schritt und Tritt.
Viele Zwangsarbeiter wurden in der Kriegsindustrie eingesetzt, z.B. bei Siemens. Man benutzte sie auf dem Bau und bei der Reichsbahn, in Arztpraxen, Handwerksbetrieben, Kirchengemeinden und selbst in privaten Haushalten. Und auch in den Bezirksämtern: „Der ausserordentliche Mangel an männlichen Arbeitern hat dazu gezwungen, Kriegsgefangene, Ausländer und sogar Juden einzusetzen“, stellte schon im Frühjahr 1941 der Kriegsverwaltungsbericht des Bezirksamtes Wilmersdorf(1) fest.
Aufgrund eines Hinweises des „Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors“ konnte Wilhelmsaue 40 als Standort des Zwangsarbeiterlagers des Bezirksamts Wilmersdorf identifiziert werden. Beleg ist der Bericht des Gesundheitsamtes Berlin-Wilmersdorf vom 30.11.1942(2).
Historische Verantwortung des Bezirksamtes
Seit Januar 2015 ist das Bezirksamt über dieses Lagers informiert. Wie ist es damit umgegangen? Hat es akzeptiert, daß es seine eigene Aufgabe ist, die historische Verantwortung für das Unrecht seiner Vorgänger zu übernehmen und vor Ort an die mißbrauchten Zwangsarbeiter zu erinnern?
Die erste Reaktion des Bezirksamts war, die Angelegenheit an die Gedenktafelkommission abzugeben. Man hat nie von Ergebnissen gehört.
Im Mai 2016 zog das Bezirksamt dann die Angelegenheit an sich und stellte Anfragen an das „Dokumentationszentrum“ und an die „Berliner Geschichtswerkstatt“ (BGW). Es ging darum, ob die beiden renommierten Einrichtungen zur Zwangsarbeit im Bezirk forschen könnten.
Die BGW antwortete im August, das Dokumentationszentrum im Oktober; beide Antworten wurden bisher nicht veröffentlicht. Das ist mit Bezug auf die Zwangsarbeiter der Wilhelmsaue brisant, da die BGW dem Bezirksamt mitgeteilt hatte, „dass es keinen Zweifel daran gibt, dass das Bezirksamt Zwangsarbeiter in eigener Regie beschäftigt hat und dass schnellstmöglich an der Wilhelmsaue eine Gedenktafel angebracht werden sollte“ (Email vom 11.08.2016).
Das Bezirksamt ist in der Pflicht
Es war richtig, daß das Bezirksamt dieses Anliegen im Mai 2016 an sich zog. Aber einfach die Bestätigung der Forschungsergebnisse und die dringende Empfehlung, tätig zu werden, in der Schublade zu belassen, deutet darauf hin, daß die Erinnerung an die Zwangsarbeiter des Bezirksamt noch lange auf sich warten lassen könnte (die Erforschung der Zwangsarbeit im gesamten Bezirk sowieso, da die beiden Institutionen dafür keine Kapazitäten übrighaben bzw. das Bezirksamt kein Geld). Oder wird es so sein, daß das neue Bezirksamt dieses Anliegen – 72 Jahre nach Kriegsende – nun endlich für menschlich wichtig ansieht und „schnellstmöglich an der Wilhelmsaue eine Gedenktafel“ anbringt? Es ist jedenfalls höchste Zeit, dieses erinnerungspolitische Versagen zu beenden.
Übrigens: Auch das Bezirksamt Charlottenburg hatte ein Zwangsarbeiterlager, und zwar in der Oranienstraße 13/15 (jetzt Nithackstraße 8-10). Hier bedarf es noch weiterer Untersuchungen, die bisher nicht einmal initiiert wurden.
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Quellenangaben:
(1) „Kriegsverwaltungsbericht Wilmersdorf (vom Kriegsbeginn bis 31. März 1941)“, Bl. 12: Landesarchiv Berlin A Rep. 039-08 Nr. 14 [zurück]
(2) in: „Ärztliche Versorgung der Ausländerarbeitslager“ [Jahreswechsel 1942/43]: Landesarchiv Berlin C Rep. 375-01-08 Nr. 7818/A 06. Ein Auszug aus dem Dokument und weitere Informationen finden Sie »hier«. [zurück]
Ein unglaublicher Vorgang
Da “quält” sich eine GT-Kommission über Jahre – mit Unterstützung eines sogenannten Privatgutachters – mit der Frage herum, inwieweit der Bezirk für die Lager auf seinem Gebiet Verantwortung zeigen sollte, fordert akribische Beweise für die Trägerschaft durch seine “Amtsvorfahren”, hinsichtlich eines bezirklich verwalteten Areals.
Es wird Zeit, dass in der neuen Wahlperiode ein erneuter Versuch gestartet wird – ehe es zu spät ist, da keine Zeitzeugen mehr vorhanden sind und die nachfolgenden Generationen es nicht mehr interessiert
Die in die BVV eingezogene Fraktion der LINKEN sollte das Thema aufgreifen.
[Anmerkung Webmaster: Über 20 orthographische Fehler mussten korrigiert werden. Tatsächlich ein „unglaublicher Vorgang“.]