300 Jahre Bücher für Kinder

Birgit Jochens ist Historikerin. Von 1990 bis 2013 leitete sie das Museum des Berliner Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, seit 2020 das Kinderbuchmuseum in Kleßen im Havelland.

Wem Wilmersdorf, die Großstadt überhaupt, einmal zu laut und zu turbulent scheint, dem ist ein Besuch in Kleßen zu empfehlen, einem der beschaulichen Kulturstandorte des Havellands. Gleich nach der Heerstraße, auf der B 5 und immer, immer geradeaus beruhigt die Anfahrt die Nerven. (Mit Zug und Bus geht es natürlich auch.) Die Reise mit dem Auto führt durch Fontane-Land, auch am berühmten Schloss Ribbeck geht es vorbei. Richtig romantisch sind dann die letzten der rund 75 Kilometer auf einer schmal gewundenen Straße. Vor der Dorfkirche mit der spitzen, schiefergedeckten Haube scharf links, rechts – und dann empfängt eine barocke Gutsanlage den Gast. Mit einem Herrenhaus in symmetrischer Dreiflügelanlage vor den alten Wirtschaftsgebäuden und einem neugotischen Wasserturm. Dort kann man durch den Schlosspark flanieren, die Blumenpracht des märkischen Gutsgartens bewundern, Störche und Milane beobachten, vor allem aber kann man in den beiden kleinen Museen in der unmittelbar angrenzenden Dorfstraße in vergangene Kinderwelten eintauchen.

Der vor zwei Jahren verstorbene Schlossbesitzer Hans-Jürgen Thiedig, der seit 1990 nicht nur das völlig verfallene Herrenhaus hat restaurieren lassen, sondern auch den Park, den Englischen Garten, der bis zum schönen Kleßener See führt, und den einstigen Gutsbereich sanierte, hat beide Museen mit Beständen aus seiner Sammlung einrichten lassen. Das 2006 eröffnete Spielzeugmuseum zeigt herausragende Beispiele der deutschen Spielzeugindustrie aus den letzten zwei Jahrhunderten*, also aus der Zeit, als die Region mit der Stadt Brandenburg an der Havel, der „Spielzeugstadt“, die Kinderstuben der ganzen Welt belieferte. Gleich daneben wurde 2020 das Kinderbuchmuseum ebenfalls mit Beständen der Sammlung Thiedig eröffnet. Seitdem bin ich dort als Ausstellungskuratorin und mein Mann Klaus-Dietrich Schulze als Ausstellungsgestalter tätig. Kein Zufall, denn wir beide haben den Schlossherrn schon viele Jahre zuvor kennengelernt, als ich im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf eine Kinderbuch-Ausstellung mit den Objekten eines anderen Berliner Kinderbuchsammlers vorgestellt habe.

Die Auswahl der Kinderbücher des Kleßener Kinderbuchmuseums deckt mit teilweise sehr seltenen Exemplaren alle wesentlichen Epochen und Gattungen der Kinderliteratur von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre ab. Es sind aufschlussreiche Einblicke in den Wandel der Beziehung des Erwachsenen zum Kind, die beim Betrachten der Bücher faszinieren – und eben dieser Aspekt ist es, der mich als Ausstellungskuratorin bei der Beschäftigung mit den Kinderbüchern besonders interessiert.

Aber man muss die Bilder zu „lesen“ wissen. Das jedenfalls belegt eine Darstellung, die eigentlich allen Besuchenden gleich welchen Alters überaus vertraut erscheint, nämlich die von Dr. Heinrich Hoffmanns Suppen-Kaspar. Meine Eltern und ich und fast alle, mit denen ich hier in der Ausstellung gesprochen habe, haben die Darstellung aus dem Struwwelpeter einfach als die Geschichte eines kleinen Jungen betrachtet, der sich weigert, seine Suppe zu essen und deswegen sterben muss. Tatsächlich aber wird in dieser Geschichte nicht etwa das Benehmen Kaspars gerügt. Das wird klar, wenn man genau hinsieht, denn Kaspar steht ganz allein am Tisch, da gibt es keine Eltern, die ihn ruhig und vernünftig zum Essen anhalten, der Tisch ist noch nicht einmal richtig gedeckt, es gibt auch keinen Stuhl, und die Eltern stellen Kaspar wie zum Hohn noch eine Suppenschüssel auf sein Grab. Ganz klar: Es sind die Eltern, die Heinrich Hoffmann anklagt, und deren starres, aggressives Festhalten an erzieherischen Prinzipien.
So ist in der Ausstellung manches längst Vertraute neu zu hinterfragen. Es gibt eine ganze Menge zu entdecken, und zwar durch bloßes Hinsehen.

Im Juni 2025 wird das Kinderbuchmuseum in seinem Sonderausstellungsbereich eine kleine Ausstellung zum Thema „Einfach tierisch: Fantasie und Natur im Bilderbuch“ präsentieren. Ergänzend lädt das Museum zu einem Schreibwettbewerb für Kinder ein.
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* Antenne Brandenburg gab in einer Sendung im Jahr 2015 einen Überblick über die Vielfalt des ausgestellten Spielzeugs: Holz- und Blechspielzeug, Puppen und Teddybären, Reit- und Plüschtiere, Kaufläden, Puppenstuben und -küchen Eisenbahnen und Autos, Metall-, Stein- und Holzbaukästen, Dampfmaschinen und Antriebsmodelle, Zinnfiguren und Ritterburgen, Tierfiguren, Zoo und Bauernhöfe, optisches Spielzeug, Brett- und Würfelspiele, Papier- und Kasperletheater, Sommerspielzeug, Kreisel, Dreirad, Holländer und Tretauto

1 Kommentar zu „300 Jahre Bücher für Kinder“

  1. Liebe Frau Jochens
    Danke für diese fröhlichen Ostergrüße. Auch Ihnen und Ihrem Mann Frohe Ostern.
    Der Hinweis auf das Kinderbuchmuseum verlockt zum sofortigen Besuch. Der Struwelpeter ist eine unerschöpfliche Quelle großen Vergnügens. Ihre Interpretation des Suppenkaspers erscheint sehr plausibel. Hinterfragen könnte man auch den Begriff der Suppe. Sind damit und mit dem Bild der Schüssel die ganze komplexe Lebensordnung gemeint, in die ein Kind hineingebeten wird und deren Regeln ihm aufgezwungen werden? Liegt hinter der Geschichte die Idee einer antiautoritären Erziehung oder wenigstens größerer Zuneigung, als damals vielleicht üblich? Welches Kinderbild hatte die Zeit der ausklingenden Romantik, der aus Gründen des Machterhalts politisch gewollten Unterdrückung individuellen Freiheitsstrebens? Immerhin hatten wir 4 Jahre nach dem Erscheinen des Struweloeters die Paulskirchenversammlung und in Berlin die Barrikadenkämpfe. Es gibt viel zu überlegen und zu genießen. Vor allem Ostern und den Frühling.
    Ihnen beiden herzliche Grüße
    Ihr Winrich Ipsen

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