Das Leben einer Rußlanddeutschen im Auf und Ab der Weltgeschichte

Frau S. hat es freundlicherweise ermöglicht, am Beispiel ihres 89jährigen Lebens nachzuzeichnen, wie sehr ein individuelles Schicksal bestimmt wird von den Entscheidungen einzelner Machthaber und deren Kriegen.

Russisch-Osmanische Kriege des 18. Jahrhunderts
Während der Herrschaft von Zarin Katharina II. (der Großen) wurden unter Führung des Fürsten Potemkin in zwei Kriegen gegen das Osmanische Reich (zwischen 1768 und 1792) die Gebiete bis hin zum Schwarzen Meer erobert und als Neurußland dem Zarenreich angegliedert. Da diese Gebiete nur gering besiedelt waren, warb man Siedler an, auch aus dem deutschsprachigen Raum. Auf Einladung von Zar Alexander I. entstanden die ersten Siedlungen der sog. Schwarzmeerdeutschen 1803 südwestlich von Odessa. 1808 folgte eine weitere Gruppe von deutschen Siedlern, die im Nordwesten von Odessa Land erhielt.
Dort wurde Frau S. 1935 als sechstes und letztes Kind (vier Töchter, zwei Söhne) einer deutschen Mutter und eines ukrainischen Vaters geboren. Ihr Vater, der sich als Russe sah, hatte aus erster Ehe außerdem drei Töchter, zu denen enger Kontakt bestand. Er arbeitete als Zimmermann in der Kolchose. Das Dorf wurde noch zur Zeit von Frau S.s Geburt hauptsächlich von Deutschen bewohnt. Sie erinnert sich daran, daß in der Kirche auf deutsch gepredigt wurde; auch habe sie mit ihrer Mutter etwas deutsch gesprochen, aber ihr Vater sprach nur russisch.

Zweiter Weltkrieg; Rußlandfeldzug 1941
Im Ersten Weltkrieg waren die Deutschen als illoyale Bürger angesehen und entsprechend repressiv behandelt worden. Diese Haltung ihnen gegenüber verschärfte sich seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft und besonders mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Form von Entrechtung und Deportationen ins Landesinnere.
Im Dezember 1940 erließ A. Hitler eine Weisung, wonach bis zum folgenden Frühjahr der Angriff auf die Sowjetunion unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ vorzubereiten sei. Der Angriff begann im Juni 1941.
Zwei Monate später, im August 1941, als Frau S. sechs Jahre alt war, wurde ihr Heimatdorf von der Wehrmacht überrollt und dem sowjetischen Machtbereich entzogen.

Stalingrad 1943
Als Ende Januar/Anfang Februar 1943 die Schlacht um Stalingrad zugunsten der Roten Armee entschieden war und die Wehrmacht zunehmend zurückgedrängt wurde, begannen SS-Dienststellen, auch die Schwarzmeerdeutschen ins „Altreich“ und in den Warthegau umzusiedeln.
Im Frühjahr 1943 mußte Frau S.s Familie fort. „Wir durften zwei Pferde und eine Kuh mitnehmen und teilten uns mit ihnen den Platz in einem Viehtransportwagen. Die Fahrt dauerte wochenlang. An ein Stück des Weges erinnere ich mich noch besonders: links ununterbrochen Wald, rechts ein großer Fluß. In ihm schwammen viele Leichen.“ Im Laufe der Fahrt durch Moldawien, Rumänien und Polen wurden ihnen die Tiere weggenommen. Schließlich kamen Frau S., ihre beiden Eltern, ein Bruder und eine Schwester in einem Dorf im Kreis Northeim (Niedersachsen) an, wo sie bis Kriegende lebten. Frau S. ging dort zur Schule. „In der dortigen Famile gab es ein kleines Mächen, das so alt war wie ich, acht Jahre. Es bekam Klavierunterricht, und ich durfte auch auf dem Klavier spielen.“

Konferenz von Jalta 1945
J.W. Stalin sah alle, die sich aus welchen Gründen auch immer in der Kriegszeit im Ausland aufgehalten hatten, als Vaterlandsverräter an. Auf der Konferenz im Februar 1945 ließ er festlegen, wer – gegebenenfalls auch mit Gewalt – nach Kriegsende in die Sowjetunion zu repatriieren sei. Dazu gehörten an erster Stelle Personen, die am 1.9.1939 ihren Wohnsitz dort gehabt hatten.
1945 erfolgte der Rücktransport für die Zehnjährige und ihre Familie. „Wir fuhren durch Rußland. Dort war alles zerstört. Wir wurden nach Aktjubinsk gebracht.“ Das ist ein Ort in der kasachischen Steppe nordöstlich vom Kaspischen Meer kurz vor der russischen Grenze. Dort ging Frau S. bis 1950 weiter auf die Schule. „Zur Zeit der Baumwollernte bekamen wir von der Schule jeder einen Sack und mußten ihn bis zum Abend gefüllt zurückbringen.“ Unterrichtet wurde in russischer und kasachischer Sprache. „Zu Hause wurde bei uns immer nur russisch gesprochen, auch von meiner Mutter. Wer deutsch sprach, galt den Mitmenschen als Faschist. Meine Mutter sprach nur schlecht russisch, und meine Freundinnen fragten immer mißtrauisch nach dem Grund.“ Deutsche mußten sich einmal im Monat bei der Polizei melden; mit Erlaß des Obersten Sowjets der UdSSR vom November 1948 war das eigenmächtige Verlassen des zugewiesenen Ortes unter hohe Strafe gestellt.

Stalins Tod 1953
Nach Stalins Tod im März 1953 begann unter N.S. Chruschtschow schrittweise eine Veränderung im Umgang mit den Deutschen. 1956 wurde ihre Ortsgebundenheit aufgehoben; sie durften jetzt ihren Wohnort verlegen; die Rückkehr in die Heimatorte war jedoch ausgeschlossen.
Daher konnte ein Bruder von Frau S., der weit im Osten von Kasachstan in Ust-Kamenogorsk wohnte, im selben Jahr sie und die Familie zu sich holen. „Mit fünfzehn war die Schule für mich zuende, und ich habe erst einmal nur gelebt, keinen Beruf erlernt, da und dort ausgeholfen.“ Das änderte sich nach dem Umzug. Frau S. arbeitete von 1956 bis 1959 in verschiedenen Tätigkeiten bei der Eisenbahn. 1960 heiratete sie mit fünfundzwanzig einen Kasachen und hatte zwei Söhne. „Wir haben uns dort ein Haus gebaut. Ich habe alle Materialien herangeschafft, mein Mann hat die Wände hochgezogen, außen aus Stein, innen aus Lehm, dem Stroh beigemischt war. Die Kollegen wunderten sich: Warum kommt nicht der Mann und holt die Baustoffe? Da habe ich ihnen gesagt: Er arbeitet bei einem Kollegen. Und sie: Dann wissen wir Bescheid (denn das war eine Umschreibung von: Er trinkt mit einem Kollegen.)“
Frau S. holte 1965 den Mittelschulabchluß nach und besuchte anschließend eine Pädagogische Fachhochschule, um sich zur Erzieherin in Vorschuleinrichtungen ausbilden zu lassen.
„1968 lud mein Onkel mich nach Tiraspol in Moldawien ein und befreite mich aus Kasachstan. Ich sagte zu meinem Mann: Ohne dich! Aber irgendwie fand er meine Adresse heraus und stand eines Tages vor der Tür.“ Von 1968 an und über ihre Pensionierung im Jahr 1990 hinaus – in der Sowjetunion lag das Renteneintrittsalter für Frauen bei 55 Jahren – arbeitete Frau S. bis 1992 als Erzieherin: „Morgens hab ich im Kindergarten gearbeitet, nachmittags in einer kleinen Fabrik mit meinem Bruder Mützen genäht.“

Gorbatschow 1985
Nachdem M.S. Gorbatschow im März 1985 zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt worden war, wurden Ausreiseanträge liberaler gehandhabt. Im August 1987 wurde das „Gesetz über Ein- und Ausreise“ in veränderter Form in Kraft gesetzt, so daß für die Ausreise nicht mehr eine Genehmigung des Innenministeriums erforderlich war, sondern das Einreisevisum eines anderen Staates genügte.
„Meine Halbschwester war mit einem Juden verheiratet und hatte schon 1983 nach Westberlin auswandern können. Sie lud mich ein und sorgte für ein Touristenvisum, und im März 1993 durfte auch ich dorthin ausreisen.“ Nach einer Vielzahl von Terminen bei verschiedenen Behörden wurde Frau S. schließlich als Spätaussiedlerin anerkannt.

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