In dieser Zeit wird von Politikern dringend gefordert (und von Journalisten verbreitet und gefördert), wir müßten „kriegstüchtig‟ werden. Durch Grundgesetzänderungen werden für Aufrüstung Sonderschulden ermöglicht, und Zeitungen raten ihren Lesern zur Anlegung von Vorräten an Trinkwasser und haltbarer Nahrung. Helmut Meyer erinnert sich daran, wie er vor 80 Jahren als 10jähriger in der Kamminer Straße in Berlin-Charlottenburg das Ende der damaligen Kriegstüchtigkeit erlebt hat – es hatte sich allerdings um einen konventionellen* Krieg gehandelt.
Zu Beginn des Jahres 1945 war die Stimmung in Berlin durch die absehbare Niederlage des Hitlerreiches gezeichnet. Die den „Endsieg“ versprechende Propaganda über den Rundfunk und in den Zeitungen, Losungen an Ruinen – „Berlin bleibt deutsch!“, „Endsieg oder Chaos“, „Unsere Mauern brechen – unsere Herzen nicht!“ – und Plakate an den Litfaßsäulen waren ein Versuch, das nun einsetzende Gefühl der Hilflosigkeit und Lebensangst zu verdrängen. Berichte über die Wunderwaffen V1 und V2 sowie die Ankündigung des Einsatzes weiterer Wunderwaffen kamen täglich in den Meldungen,

Flüchtlingstrecks durchzogen Berlin, die Hektik und Nervosität der Menschen erreichte mit Beginn des Monats April den Höhepunkt. Man begann Barrikaden aus den Trümmern der Häuser, Eisenträgern und Straßenbahnwagen zu errichten. Am Tegeler Weg vor der Schlossbrücke und in Höhe des Eingangs zum Landgericht, in der Kaiserin-Augusta-Allee nahe dem Gustav-Adolf-Platz [Mierendorffplatz] entstanden sie. An der Kaiserin-Augusta-Brücke über den Verbindungskanal wurde ein nicht mehr funktionstüchtiger Tiger-Panzer bis zu Kuppel eingegraben, um die Brücke verteidigen zu können.
Das Lebensumfeld der Familien unserer Straße war von den Schrecknissen des Krieges gezeichnet. Gefallene Väter, Brüder der Spielgefährten, Kriegskrüppel, aufgenommene ausgebombte Verwandte und Flüchtlinge aus den Ostgebieten bestimmten das Tagesgeschehen.
Bombenangriffe, die sowohl am Tage wie in der Nacht stattfanden, unterbrachen die Strom-, Gas- und Wasserversorgung für Stunden. Straßenbahnen und S-Bahnen fuhren auf unterbrochenen Abschnitten, da das Schienennetz durch die Angriffe zerstört war und schon nicht mehr ersetzt wurde. In einer Kampagne im Februar wurden die Berliner aufgefordert, in den Haushalten befindliche Waffen für die Verteidigung Berlins abzuliefern. Viele Berliner entledigten sich gern der Waffen, die ihnen bald Ungelegenheiten bereiten könnten.
Der ab April einsetzende Daueralarm zwang die Mieter in die Luftschutzkeller.*** Das beengte Leben dort war nun nicht mehr nur auf Stunden, sondern fortan auf Tage und Nächte bis zum Beginn des Mai die letzte Form der „Volksgemeinschaft“. Man verlor in der Enge und der Dunkelheit des Kellers jegliches Zeitgefühl. Wir horchten nur noch auf den sich immer stärker entwickelnden Kriegslärm, jetzt Panzermotoren, Detonationen und Schießereien.
Alle waren betäubt von der sich immer stärker entwickelnden Todesangst. Laute Gebete der Erwachsenen, lautes und leises Weinen in der Dunkelheit beherrschten den Keller. Die Fassungslosigkeit über den Zusammenbruch und die Angst vor der eigenen Mitschuld am Ende des „Tausendjährigen Reichs“ war für viele fanatische Nazis in diesen Tagen und Stunden der Anlass, sich und ihren Familien das Leben zu nehmen. In einer Wohnung der Kamminer Straße 3 löschte beim Eintreffen der Russen ein aktiver Parteigenosse das Leben seiner Frau und Kinder und sein eigenes aus.
Am 27. April flog die Blechtür zu unserem Luftschutzkeller auf und mit dem lauten, fordernden Ruf: „Deutsche Soldat?“ stürmten russische Kampftruppen in den Keller. Der von den Kämpfern mitgebrachte Kriegs-Geruch, die Stahlhelme und vorgehaltenen Waffen ließen unser Ende vermuten. Die Truppe verließ schließlich ohne „deutsche Soldat“, dafür mit den Zeitmessern der Mieter und der goldenen Taschenuhr von Herrn Fechner den Keller.
War es das? Oder waren wir erst nur noch einmal davongekommen?
Tod und Zerstörung im Sonnenschein
Der April 1945 zeigt sich mit sonnigem Frühlingswetter. Da hält es uns Jungen nicht mehr im Luftschutzkeller. Vor den Häusern der Kamminer Straße 5 und 6 liegen tote russische Soldaten, die beim Kampf in der Straße es nicht in die rettenden Hauseingänge geschafft haben. Der bekannte Brandgeruch des Bombenkrieges hat jetzt neue Nuancen hinzubekommen: Tod und Verwesung, Abwassergestank aus den Häusern und dem zerstörten Abwassernetz, Berlin ist eine stinkende Stadt geworden.
In dem Durcheinander von Lastwagen, Munitionskisten und fortgeworfenem Kriegsgerät sitzen russische Soldaten und rauchen. Im Erdgeschoss vom Haus Nummer 5 gegenüber, bei Frau Pahl von der Reichsarbeitsfront, haben sie ein Koffergrammophon requiriert und spielen die Platten ab, die eben da waren: „Straße frei! SA marschiert! …“ und andere Märsche der „Bewegung“, eine makabre Szene.
Zwei Soldaten mit Maschinenpistolen haben einen dicken „Goldfasan“ aufgegriffen, einen Blockwart in braungelber Uniform mit braunen Langschäftern. Sie führen ihn durch die Straße. Zuerst wird er an der Litfaßsäule Ecke Kamminer Straße zum Tegeler Weg von seinen Langschäftern befreit. Später liegt er erschossen auf der Fahrbahn des Tegeler Wegs.
Unsere Clique erkundet neugierig alles, was sich in all diesem Chaos nun zeigt. Die Russen nehmen von uns keine Notiz. Unsere Neugier wird mit erschreckenden Bildern gestillt, die uns fürs Leben prägen, die ich nach 80 Jahren wieder vor Augen habe, wenn ich heute an diese Orte der Ereignisse von damals komme. Am Tegeler Weg vor der Bahnunterführung steht ein ausgebrannter Panzer T 34, auf der Fahrbahn liegen tote deutsche Soldaten, über die die vorrückenden Panzer gerollt sind. Auch die toten Rotarmisten vor den Hauseingängen der gegenüberliegenden Häuser Nummer 5 und 6 liegen noch zwei Tage nach den Kämpfen in ihrer erstarrten Haltung.
Wir laufen über die Mindener Straße zum Tegeler Weg. Hier haben die Russen als Ersatz für die gesprengte Schlossbrücke ihre Pontonbrücke über die Spree zum Schlosspark geschlagen, über die nun Panzer und Armeefahrzeuge Richtung Zentrum rollen. Wir stehen an der Brücke, als die Russen uns auffordern, die Brücke zu überqueren. Während einer Unterbrechung der ständig rollenden Kolonnen laufen wir schnell über die nur aus Bohlen ohne Geländer bestehende Brücke. Der Parkweg an der Spreeseite des Schlossparks dient jetzt als Straße Richtung Luisenplatz. Etwas fremd in dieser Kolonne nehmen sich die mit kleinen zottigen Pferden bespannten Panje-Wagen aus, auf denen abenteuerlich aussehende Russen mit ihrer Bagage sitzen. Unter den Parkbäumen stehen Panzer, auf dem frischen Grün der Parkflächen grasen Pferde, denen man die Vorderbeine gefesselt hat. Wir laufen neben der Fahrspur entlang, in den Grünanlagen stehen Kistenstapel mit zurückgelassener Munition und anderes fortgeworfenes Kriegsgerät. An der Ruine des Schinkelpavillons stehen 3-achsige amerikanische Lkws mit Soldaten in Mänteln und Schirmmützen mit viereckigem Deckel. Es sind polnische Truppen, die mit den Russen über Charlottenburg zum Sturm ins Stadtzentrum fahren.
Weiter geht unser Weg zur Putten-Gruppe am Karpfenteich. Zwischen dem fortgeworfenen Kriegsgerät stehen zwei Horch-Cabriolets mit offenem Verdeck, darin sitzen russische Offiziere. Die Autoradios laufen, ein Sprecher verkündet immer wieder die „bedingungslose Kapitulation“ der deutschen Wehrmacht und fordert dazu auf, alle Kampfhandlungen einzustellen. Zwischen diesen Aufforderungen läuft klassische Musik. Es ist der 2. Mai 1945. Die Berliner Garnison unter dem Stadtkommandanten General Weidling kapituliert in einer Wohnung in Tempelhof. Ein Ereignis, das dann von den Siegern am Abend durch einen alles erschütternden Salut der Waffen über Berlin gefeiert wird. Erschreckt glauben wir an ein neues Aufflackern des Krieges.
Wir ziehen weiter zum Mausoleum im Schlosspark. Die Metalltür zur Gruft steht offen. Auf dem Vorplatz und an den Treppen liegen die aus der Gruft geschleppten Särge, die man aufgebrochen hat. Teilweise neben den Särgen liegen die mumifizierten Körper in zerschlissenen Kleidern. Sicher hat man in den Särgen kostbare Beigaben und Schmuck vermutet.
Unseren Rückweg versuchen wir über die Schlossbrücke. Die östliche Seite der Brücke ist durch die Sprengung in die Spree gesunken, die westliche Seite hängt mit großer Schieflage noch in den Brückenlagern. Wir hangeln uns am Brückengeländer über die Spree auf den Tegeler Weg. Es gelingt uns mit zunehmender Sicherheit. Wir nutzen dann diesen Weg auch in den nächsten Tagen bei unseren Erkundungen am anderen Spreeufer.
Fedja
Unsere Clique hat schnell Kontakt zu den fremden Soldaten. An der Hauswand vor der Parterrewohnung von Frau Riese – ihr Mann war die rechte Hand des Dr. Ley, der die „Arbeitsfront“ befehligte – steht ein Lastwagen der Russen. Der junge rundköpfige Fahrer lacht freundlich, zeigt auf sich und sagt „Fedja“. Mit Händen und Füßen wird Verständigung versucht. Sein „Gitler kaput!“ habe ich behalten. Wir besuchen ihn öfters, und er teilt sein kürzlich erworbenes Vermögen mit uns, zum Beispiel Schachteln mit „Notverpflegung süß“ aus den Wehrmachtsbeständen. Für mich hat er eine Spieluhr in poliertem Edelholzgehäuse, die zwei Lieder kann: „Guter Mond, du gehst so stille“ und „Üb‘ immer Treu und Redlichkeit“.
Die Pumpe am Tegeler Weg ist jetzt unsere Wasserquelle. Einmal am Tag hole ich einen Eimer, obendrauf schwimmt ein hölzernes Stullenbrett, damit nicht zu viel Wasser überschwappt. Man muss in der Schlange warten, ehe man mit dem Pumpenschwengel seinen Eimer füllen kann. Vor uns liegt dabei die Mittelpromenade mit den Obelisken für die nun eilig in langer Reihe dort bestatteten russischen Soldaten.
Ölsardinen und ein Saxophon
Die russischen Soldaten nehmen Gerd Rollenhagen und mich mit zur Ecke Mindener Straße, zur Filiale von „Lehmanns Kolonialwaren“. Die Russen brauchen dringend Hochprozentiges, und wir sollen bei der Suche helfen. Es geht über die Ladentreppe ins Kellerlager, und wir ziehen für unsere Begleiter die Schnapsflaschen aus den Regalen. Doch da liegt noch viel mehr: Lebensmittel und Konserven, die es schon lange nicht mehr im Laden gibt. Als die Soldaten ihre momentanen Bedürfnisse gedeckt haben, dürfen auch wir uns etwas einstecken. Ich nehme Ölsardinen, ein Stück Seife und zwei Dosen Rindfleisch. Dann können wir zurück. Die Aufregung über unser Verschwinden mit den Russen legt sich schnell. Als wir erzählen, woher die mitgebrachten Schätze stammen, setzt ein allgemeines Rennen ein. Doch Pech gehabt. Die Russen jagen alle zurück und halten den Keller besetzt. Ich bekenne also, ich habe geplündert. Zu meiner Verteidigung mache ich Strafunmündigkeit und Befehlsnotstand geltend.
In den nächsten Tagen setzt unsere Clique die Erkundungsgänge und Beutezüge fort. Am Tegeler Weg ist ein verlassenes Barackenlager der Organisation Todt. Ein Telefon, Stempel und Stempelkissen scheinen mir das Begehrenswerteste zu sein, und ich lasse es mitgehen.
Dann geht es zu unserer Schule an der Herschelstraße. Das war die Unterkunft der Fremdarbeiter aus Frankreich, Holland und Belgien. Ich finde ein Saxofon, zwar ohne Mundstück, aber vielleicht kann man es trotzdem irgendwie nutzen.
An den Ruinen in der Berliner Straße [Otto-Suhr-Allee] stehen noch Goebbels‘ Propagandaparolen. Am Luisenplatz steht die Antwort der Russen: „Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt. STALIN‟.
Nächste Station: Hauptpostamt Charlottenburg. Alles steht offen, auch die großen Tresore. Darin liegt bündelweise Geld. Wir reißen die Banderolen auf und verstreuen die Reichsmark-Scheine, denn wir glauben, dass sie jetzt wertlos sind, was allerdings ein Irrtum war, denn die Reichsmark gilt noch eine Weile weiter. Paketweise liegen Briefmarken der Serien „Volkssturm“ und „Führergeburtstag 20. April 1945“ herum. Uns interessieren nur die hammerartigen Briefstempel mit verstellbarem Datum.
Die Flakstände in der Jungfernheide sind verlassen. Wir durchstreifen die Unterstände. Noch immer liegen tote Soldaten darin. Ein Offizier hat sich selbst erschossen. Die Pistole liegt neben ihm.
Auf dem Bahnhof Jungfernheide steht ein Güterzug, aus dem ballenweise Uniformstoffe weggeschleppt werden. Ich ergattere einen Karton mit Nähgarn, das Mutter später nach und nach gegen Essbares eintauscht.
In der Kaiserin-Augusta-Allee ist die Knorr-Fabrik. Auch hier wird geplündert, was das Zeug hält. Im weißen Nebel des Mehllagers wimmelt es von Mehlräubern. Meine Beute: ein Sack mit vielleicht zwanzig Pfund. Wie es die anderen tun, schleppe ich ihn nach Hause. Unterwegs kommen uns Plünderer entgegen, denen der Bäckermeister in der Mindener Straße mit russischem Beistand das Mehl wieder abgenommen hat. Wir beratschlagen. Fedja muss her. Einer geht ihn holen. Unter seinem Kommando marschieren wir dann am Bäcker vorbei.
„Sakuska“ in der Mindener Straße
Die Russen haben In der Mindener Straße 24 eine „КОМЕНДАТУРА“ eingerichtet. Die Mieter mussten das Haus verlassen. Das Schild am Haus und ein Posten vor der Tür sorgen für die Autorität und zugleich den Abstand der deutschen Anwohner von diesem Haus.
Die „Kommandatura“ klebte große Textplakate an die Hauswände der umliegenden Straßen. Es sind die Befehle Nr. 1 und Nr. 2 des Stadtkommandanten Generaloberst Bersarin vom 27. April 1945, sie bestimmen jetzt über das Leben der Berliner. Es gibt eine „Ausgangssperre“ für alle Berliner in der Zeit von 22.00 bis 8.00 Uhr. Weitere Bestimmungen regeln die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und verbieten alle faschistischen Organisationen. Die Bildung demokratischer Parteien wird zugelassen.
Darauf folgt sofort die Öffnung von Parteilokalen der SPD und einer liberalen Partei am Tegeler Weg. Dort wirbt man nun Mitglieder, allerdings kann noch kein Parteiprogramm verkünden werden. Die KPD hat kein Parteilokal, ihr fehlen wohl hier die Initiatoren.
Im Befehl Nr. 1 wird den Berlinern unter Androhung von Strafe befohlen, alle Radioempfänger, Fotoapparate und Telefone in der „Kommandatura“ Mindener Straße 24 umgehend abzugeben. Das Radio aus unserer Wohnung und mein geplündertes Telefon aus dem Lager der Organisation Todt gebe ich bei einem Russen ab.
Gegenüber der „Kommandatura“, auf dem Gehweg vor einem Ruinengrundstück, haben die Russen ein sehr großes Holzfass geschafft. Das ist für unsere Clique von Interesse. Doch der Posten vor der Kommandantur hat es ständig im Blick.
Aus der Kommandantur kommt öfters ein älterer russischer Soldat, wir vermuten, ein Koch. Mit einer Kelle füllt er etwas aus dem Fass in eine Schüssel. Wir sind in seiner Nähe – es sind Salzgurken. Er fordert uns auf zuzugreifen, wir greifen zu. „Sakuska“ sagt er. Es ist die typische Zuspeise beim Wodkatrinken, wie wir später erfahren. Wir sind zur Stelle, wenn er täglich die Schüssel füllt, und erhalten so unsere Gurken.
Brot in der Malzbierflasche
Eines Nachmittags Anfang Mai hält ein Tanklaster auf dem Tegeler Weg. Die Russen laufen mit Benzinkanistern dorthin. Auch Fedja nimmt zwei Kanister und fordert mich auf mitzukommen. Schnell wird klar: das militärische Tankfahrzeug hat eine zivile Flüssigkeit geladen: Primasprit aus dem Schering Werk am Bahnhof Jungfernheide. Die Russen probieren ihn gleich am Ablasshahn. Die Benzinkanister werden kurz mit der edlen Flüssigkeit ausgespült und dann mit dem Sechsundneunzigprozentigen gefüllt. Ich helfe mit, unsere zwei Kanister zum LKW zu schleppen. Dort nimmt sich Fedja den einen, den anderen soll ich mitnehmen. Meine Mutter ist völlig verstört, als ich damit ankomme. Das Zeug kommt erst mal auf den Balkon. Von dort sehe ich die Russen fröhlich ihre Trinkbecher schwenken und nach und nach zu Boden gehen. Neugierig hole ich mir eine Tasse, gieße mir etwas ein und probiere. Ich verbrenne innerlich, gieße den Rest zurück und mache den Verschluss schnell wieder zu. Mutter hat nichts gemerkt.
Wochen später – die Verbände der westlichen Alliierten sind am Beginn des Monats Juni kampflos nach Berlin gekommen. Charlottenburg und die Mindener Straße sind über Nacht britischer Sektor. Die Engländer bestimmen nun die Regeln für die weitere Entwicklung unseres Lebens. Die „КОМЕНДАТУРА“, das „Sakuska“-Fass mit den Salzgurken und Fedja mit seinem Lkw-Konvoi sind über Nacht verschwunden. Unser Mitbewohner Herr Gebauer ist nicht mehr Luftschutzwart, sondern geht nun wieder ausschließlich seinem Bäckerberuf nach. Die Wittler-Brotfabrik in Moabit funktioniert schon wieder. Und dort sitzt unser Herr Gebauer an der Quelle, denn er bekommt Deputatbrot. Ein Brot kostet auf dem schwarzen Markt bereits 500 Reichsmark. Gebauer hungert also nicht wie die meisten Berliner, aber ihn dürstet. Meine Mutter kommt mit ihm ins Gespräch und ins Geschäft, denn wir haben etwas, das sich als Tauschobjekt eignet. Mit einem Trichter füllen wir eine Malzbierflasche mit dem Zeug. Sonnabendnachmittag klopft es an unserer Wohnungstür. Herr Gebauer reicht ein Vierpfundbrot herein und nimmt eine Malzbierflasche mit Bügelverschluss für sein Wochenende entgegen.
Nach und nach leert sich der Kanister.
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* Wie das Ende eines Nuklearkrieges aussehen kann, zeigt detailliert Annie Jacobsen in ihrem Buch „72 Minuten bis zur Vernichtung“ (Heyne 2024 – Signatur Stadtbibliothek: Pol 79,1 Jaco).
** Es handelt sich um eine interaktive Karte aus einem Geodaten-System, die man nur im System selbst vergrößern kann: 1. Hier klicken oder https://histomapberlin.de/de/index.html eingeben. 2. In die Zeile „Suche nach Straßenname“ eingeben: Kamminer. 3. In der daraufhin erscheinenden Liste die erste Zeile antippen.
*** Hierzu: „Leben im Luftschutzkeller„.