Die Gemeinde (*) der Auenkirche beging am Reformationstag Ende Oktober mit einem Festkonzert und einem Festgottesdienst das 125jährige Jubiläum ihrer Kirche. Allerdings ist dies nicht das erste, sondern bereits das dritte Bauwerk an diesem Ort.
Die erste Dorfkirche entstand vermutlich im 13. Jahrhundert; sie brannte 1766 zusammen mit dem halben Dorf ab. (Ihr Ende fiel zeitlich mit dem Bau des Schoelerschlösschens zusammen.) An ihrer Stelle – auf dem Rondell vor der Kirche, längs der Dorfstraße – wurde 1772 eine zweite Dorfkirche eingeweiht (siehe Abb. 2); an sie erinnert noch die goldene Wetterfahne auf dem Konfirmandenhaus. Wenn man genau hinschaut, sieht man dort aber nicht nur die Zahl 1772 in zeitgenössischer Schreibweise, sondern rechts darunter, kleiner und in heutiger Schrift, 1995. Es handelt sich nämlich um eine Replik aus jenem Jahr, als umfangreiche Renovierungen stattfanden. Die zweite Kirche wurde 1897 abgerissen, wenige Tage vor der Einweihung des heutigen Gebäudes, da sie jetzt nur noch im Wege stand.
Eine neue Kirche wurde gebraucht
Eine neue Kirche war notwendig geworden, denn Wilmersdorf wuchs und wuchs seit Ende des 19. Jahrhunderts, ebenso wie die anderen um Berlin liegenden Ortschaften. Denn Preußen war es nicht nur gelungen, im Konkurrenzkampf mit Österreich um die Vormacht in einem zukünftigen Deutschland militärisch zu obsiegen, sondern mittels des Krieges gegen Frankreich im Jahr 1870/71 die anderen deutschen Staaten unter seiner Vorherrschaft zum Deutschen Reich zusammenzufügen. Reichshauptstadt wurde Berlin. Deren rasche Entwicklung ließ Wilmersdorfs Einwohnerzahl von unter 2.000 im Jahr 1871 (Dorf) auf über 100.000 im Jahr 1910 (seit 1906 Stadt) ansteigen. Der Auftrag an den Architekten und preußischen Baubeamten Max Spitta (1842-1902) lautete daher, eine Kirche zu entwerfen, die statt der mutmaßlich 400 Gläubigen der Dorfkirche nun 1.000 aufnehmen konnte. 1894 begann er seine Planung, Mitte Oktober 1895 wurde der Grundstein gelegt, Mitte Oktober 1896 Richtfest gefeiert, Mitte Oktober 1897 fand die Bauabnahme statt und kurz darauf am Reformationstag die Kirchweih. In nur drei Jahren war ein Gebäude von 46 m Länge, 24 m Breite, 25 m Höhe und mit einem 63 m hohen Turm entstanden. (Aus diesen Jahren stammt auch das Mietshaus Wilhelmsaue 111a.)
Grundsätze für den Neubau
In den damaligen Vorschriften für den Neubau von evangelische Kirchen (Eisenacher Regulativ von 1861) wurde den Architekten eine Anlehnung an mittelalterliche Baustile empfohlen. Damit meinte man die „sogenannte romanische (vorgotische) Bauart“ und „vorzugsweise den sogenannten germanischen (gotischen) Styl“ – heutzutage Neogotik genannt. Danach durfte die Kanzel nicht im Chorraum stehen, sondern gehörte an den Pfeiler am Übergang vom Chor zum Kirchenschiff. Die Orgel hatte „ihren natürlichen Ort dem Altar gegenüber“, und schließlich sollte der Altar „nach alter Sitte“ in Richtung Sonnenaufgang, also Osten, liegen. Spitta befolgte diese Vorgaben, nur war die West-Ost-Ausrichtung nicht möglich, weil es dazu an Platz längs der Dorfstraße fehlte. Also blieb nur eine Nord-Süd-Ausrichtung. Damit kam die Apsis dem bis etwa 1920 bestehenden Wilmersdorfer See auf gut 50 m nahe und ragte somit in den sumpfigen Bereich der Eiszeitrinne. Im Laufe der Jahre zeigte sich – im Verbund mit Kriegsschäden von 1943 -, daß ihre Standfestigkeit bedroht war. Deswegen wurden 1973 bei Sanierungsarbeiten Zuganker eingebaut (siehe das Gestänge oberhalb des Kämpfergesims). Diese Ausrichtung nach Süden ist manchen Besuchern ein Ärgernis, da sie beim Blick auf den Altar geblendet werden, anderen eine Freude wegen des Farbenspiels, das über Boden und Wände wandert.
Baustil und Raumwirkung
Spitta griff in seinem historisierenden Entwurf also auf Elemente von Romanik und Gotik zurück. Gotische Elemente sind die dreibahnigen Spitzbogenfenster, die durch Blendbögen zusammengefaßt sind, der gestufte Triumphbogen, das Kreuzrippengewölbe, der Dachreiter und die Strebepfeiler, die allerdings eher der Dekoration dienen, denn tatsächlich wird der seitliche Gewölbeschub durch die quer zum Kirchenschiff errichtete Konstruktion der Emporen aufgefangen (sog. eingezogene Strebepfeiler). Zu den der Romanik entliehenen Elementen gehören die Fensterrosen in den Querschiffsarmen, die gedrückten Bögen, die die Empore tragen, und insbesondere die breite Anlage des Kirchenraums.
Spitta hat eine Kirche sehr eigener Art geschaffen, die von außen einen gotischen Eindruck macht, sich im Innern aber als eine weiträumige einschiffige Saalkirche mit dreiseitig umlaufender Empore erweist und insgesamt eher romanisch wirkt. Das zwei Joche breite Querschiff direkt vor dem Altarraum ist wenig ausgeprägt. Es ist zwar von außen als solches erkennbar, im Innern stellt es sich jedoch eher als eine Ausweitung der Seitenemporen und des darunter liegenden Umganges dar.
Einzelne Ausstattungsstücke
Zum Schluß noch ein Blick auf einzelne Stücke der Ausstattung. Besonders zu erwähnen ist die vorschriftsmäßig „auf einer Empore über dem Haupteingang“ stehende Orgel, die zweitgrößte in Berlin. Sie wird zur Zeit restauriert und soll am Reformationstag des nächsten Jahres bei einem Festgottesdienst wieder in Betrieb genommen werden. Weitere Ausstattungsstücke sind oben im Blick auf den Altarraum zu sehen: Noch aus der Zeit der Entstehung stammt der Teppich, der unmittelbar vor dem Altar liegt. Etliche Exemplare sakraler Kunst kamen in den 1970er Jahren hinzu, darunter der Altaraufsatz – ein Kruzifix auf einem dreiteiligen Bronzerelief, das die Fußwaschung, Petri Fischzug und den barmherzigen Samariter zeigt – und die expressiven Altarfenster. Und ganz links, unter der Empore des nördlichen Querschiffs, ist gerade noch eine gußeiserne Gedenktafel zu erkennen. Sie ist älter als die Kirche und erinnert an den „Heldentod“ zweier Gemeindemitglieder in den oben erwähnten Kriegen, mit denen Preußen seine Vorherrschaft in den deutschen Landen erzwang und dadurch den steilen Aufschwung von Berlin und Umgebung in Gang setzte, der letztlich zu dieser Kirche führte: Ohne diese beiden Kriegstoten (und viele mehr) gäbe es diese Kirche wohl nicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Heft Dezember 2022/Januar 2023 von KiezWilmersdorf.
Anmerkung:
(*) Zum Gemeindeleben siehe auch hier (zwei Teile). [zurück]