Wenn Sie von Anfang an abonniert hätten, hätten Sie jetzt 241 g Literatur, verteilt auf elf Hefte. Die Rede ist von einer Literaturzeitschrift, die seit Januar 2021 zweimonatlich erscheint und sich nicht nur nach Gramm bemisst, sondern auch so heißt: ‘Das Gramm‘.
Ihr Herausgeber, Patrick Sielemann, hat sich bei der Namenswahl auf das altgriechische Wort ‚to grámma‘ bezogen, das in erster Linie ‚das Geschriebene‘ bedeutet, aber auch die Bezeichnung eines sehr kleinen Gewichts war. Beides trifft hier zu: Die Hefte wiegen zwischen 17 und 25 g, sind etwa im DIN 6A-Format hochkant und enthalten jeweils eine Kurzgeschichte. „Voraussetzung für ihre Aufnahme in meine Zeitschrift ist, dass sie noch nicht veröffentlicht wurde.“ Es gibt noch mehr Voraussetzungen: „Sie soll unterhaltsame Elemente haben wie Spannung oder Humor, zum Weiterlesen auffordern, zum Nachdenken anregen, Abgründe öffnen.“ Abgründe öffnen? „Man wandert in den Bergen, alles ist schön, man biegt um eine Ecke – und steht am Rand eines Abgrunds. Nur dass es hier natürlich um menschliche Abgründe geht.“
Hinwendung zur Literatur
Für Literatur begann sich Patrick Sielemann erst in der Oberstufe des Gymnasiums zu interessieren, als Klassiker sowie Gegenwartsliteratur, u.a. Patrick Süßkind, Unterrichtsstoff waren: „Verschiedene ‚Fenster‘ öffneten sich mir beim Lesen.“ Ähnlich ging es ihm auch mit seinem einen Studienfach, Philosophie: „mein Einstieg in einen Kosmos von Gedanken“. Ein Praktikum im anderen Fach, Literaturwissenschaften, erweckte in ihm dann den Berufswunsch Lektor. Nach einer mehrjährigen Durchgangszeit bei einer Literaturagentur ist Patrick Sielemann nunmehr seit zehn Jahren der für deutschsprachige Literatur zuständige Lektor eines Verlags im schweizerischen Zürich.
Lektor
„Der Konkurrenzdruck der Verlage untereinander ist viel zu groß,als dass man sich als Lektor auf die ‚Autobahn‘ begeben könnte und einfach die Manuskripteinsendungen von Agenturen abwarten. Man muss auch ‚Seitenwege‘ einschlagen und selbst Autoren suchen, sie ansprechen, um sie für den Verlag zu akquirieren.“ Ist diese Akquise, nach Vorgesprächen auf Grundlage des vorgelegten Textes, durch Vertrag abgeschlossen, gehe es an die detaillierte Überarbeitung der Vorlage: Stimmt die Strukturierung? Funktioniert der Spannungsbogen? Sind weitere Ausarbeitungen nötig? Oder gibt es stattdessen Längen? Sollte gar eine Figur gestrichen werden? Wie steht es mit Sprachrhythmus, Grammatik? Und wodurch ist Patrick Sielemann befähigt, dies alles zu sehen? „Ich sehe es, weil ich es nicht geschrieben habe. Es ist der fremde Blick auf den Text.“ Natürlich erfordere solch enge Zusammenarbeit an einem Text viel Vertrauen. Festzustellen, ob dieses vorhanden ist, sei auch ein Zweck der erwähnten Vorgespräche.
Verleger
Die Zusammenarbeit beschränkt sich aber nicht auf Autoren, sondern gilt auch für weitere Personen, die an der Herstellung eines Druckwerks beteiligt sind: Korrektoren, Designer, Setzer, Drucker. Diese aus seiner Lektoratsarbeit bestehenden Kontakte bedeuteten für Patrick Sielemann eine wesentliche Entlastung, um seine Idee von der Herausgabe einer von ihm auch lektorierten Literaturzeitschrift neben seiner beruflichen Tätigkeit umsetzen zu können. „Aber seit dem Beginn Anfang 2021 haben sich mittlerweile eine Anzahl von Automatismus herausgebildet, zum Beispiel bei der Abrechnung. Auch kommen jetzt viele Autoren zu mir, um zu veröffentlichen. Gleichzeitig gehe ich auf andere zu, deren Arbeiten mir gefallen. So stehen die nächsten drei Hefte bereits fest.“ Insgesamt dreitausend Abonnenten seien in den bisher eindreiviertel Jahren zusammengekommen. Zur Idee dieser Zeitschrift gehört nämlich, dass sie nur per Jahresabonnement, das jederzeit beginnen kann, im Sechserpack erhältlich ist; allerdings werde man ab jetzt bereits erschienene Ausgaben auch einzeln nachkaufen können. Der Vertrieb über den Buchhandel sei unwirtschaftlich, er lasse sich nicht kalkulieren, da nach Abzug einer für den Handel angemessenen Marge ein Minusgeschäft entstünde.
Literatur in ansprechender Form
Aus seiner beruflichen Tätigkeit wisse er, sagt Patrick Sielemann, dass das Interesse an guten Büchern im Prinzip ungebrochen sei. Aber es gäbe eben auch eine starke elektronische Konkurrenz, Netflix zum Beispiel, und dann bleibe keine Zeit, um groß zu lesen. Andere wieder kapitulieren vor der schieren Bücherflut. Für beide sehe er in Kurzgeschichten ein Angebot, um zum Lesen (zurück) zu finden. Und dabei spiele für ihn auch die Darbietungsform eine Rolle, was heißt: nicht elektronisch. „Solch ein Heft kann man in den Händen halten, man kann auch mal zurückblättern. Und dann gehören dazu auch die Papierqualität und eine ansprechende Gestaltung der Titelseite.“ Die Illustrationen auf den Umschlägen stammen von verschiedenen internationalen Künstlerinnen und Künstlern. „Es gibt stets einen inhaltlichen Bezug, und die einzelnen Bildstile unterscheiden sich nicht allzu sehr voneinander, damit das Magazin als Ganzes einen Wiedererkennungswert hat.“
Die 12. Folge
Aus elf Lieferungen besteht das Magazin bisher. Die zwölfte erscheint im November mit einer Kurzgeschichte der schweizerisch-rumänischen Schriftstellerin Dana Grigorcea. Darin wird es um die Liebe gehen: Erinnerungen einer Frau an ihre erste Liebe im langen Sommer in den Karpaten, als eine andere ihr den jungen Urlauber wegschnappte. Einen Blick darauf kann man schon mal auf der Website der Zeitschrift nehmen, wo die Titelseite, Angaben zum Inhalt und zur Verfasserin sowie ein kurzes Video zu finden sind. Im Video liest die Verfasserin den ersten Satz vor, es folgt das Klappern einer Schreibmaschine, das alsbald rhythmisch und dann musikalisch wird.
Der Text ist zuerst erschienen im Oktober-Heft von KiezWilmersdorf.
Eine originelle Idee, Literatur grammweise, also in kleinen Portionen zu veröffentlichen. Eine Kurzgeschichte pro Heft. Das reicht? Oder ist ein Anfang, wieder zu mehr Literatur zu finden. Ein Heftchen werde ich mal bestellen oder gleich Abonnent werden? Mal sehen.