Eine Randsportart mit Kraft und Gefühl: Reißen und Stoßen

Gewichtheben: Nur was für Männer? Nur Muskeln und kurze Arme und Beine? Paßt Feingefühl zum Gewichtheben? Was hat es mit Reißen und Stoßen auf sich? Der folgende Bericht über einen Gewichtheberverein versucht darauf Antworten zu geben.

Tritt man in die Sporthalle des Athletik Club Heros, so sieht man an der Längswand und im linken Teil der Halle die Sportgeräte stehen. Am rechten Hallenende fallen die Bühne für die Wettkämpfe und ein Schaukasten mit silbernen Pokalen auf. Es ist still, wie in allen anderen Sporthallen, in denen seit Ende Oktober 2020 kein Breitensport mehr stattfinden darf. Benjamin Burse, seit einem Jahr 2. Vorsitzender, erläutert: „Zunächst durften wir im letzten Jahr nur noch zu zehnt in die Halle, dann war sie im Sommer drei Monate lang wieder für alle auf, und seit November heißt es abwarten. Natürlich haben auch wir laufenden Kosten, zum Beispiel für die Heizung. Und die Mitglieder müssen so lange privat trainieren: Gewichte, Klimmzüge, Liegestützen, Kniebeugen. Selbstverständlich gab es in den letzten Monaten auch eine ganze Reihe von Austritten.“ Nach Mitteilung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) vom 21. April hat der gesamte Breitensport eine Million Mitglieder verloren. Bis zum Herbst 2020 hatte AC Heros noch annähernd 200 Mitglieder, davon fast ein Drittel Frauen; offenbar ist Kraftsport in unseren Breiten kein „ausgesprochener Männersport“. Seit diesem Juni dürfen nun wieder zehn Mitglieder gleichzeitig in die Halle – vorausgesetzt sie gehören zu den drei G: geimpft, geheilt, getestet.

„Wir haben auch zehn Jugendliche im Verein. Sie können bereits mit 6, 7 Jahren kommen, aber meist sind sie 11 oder 12.“ Ihr Trainer ist Viktor Parijer, dreifacher Berliner Meister im Gewichtheben (Zweikampf Reißen und Stoßen) in der Klasse bis 89 kg. Er kommt vom Crossfit, einem multifunktionalen Training, mit dem Kraft und Ausdauer entwickelt werden. Er tritt gleich einmal der Aussage entgegen, Gewichtheben sei ungeeignet für Menschen über 1,85 m und solche mit langen Armen. „Sicher, die haben längere Wege mit dem Gewicht zurückzulegen, aber letztlich ist es einfach eine Frage des richtigen Winkels der Arme zum Körper. Gewichtheben ist nur für die nicht geeignet, die nicht die Kraft dazu haben oder die sich nicht trauen, ein großes Gewicht über ihren Kopf zu stemmen.“

Kraftsportarten

Hat Bodybuilding etwas mit Gewichtheben zu tun? „Nur insofern, als man auch dort seine Muskeln entwickelt. Das ist sogar die Hauptsache dabei: die Optik. Das Gewicht ist nicht so wichtig. Gewichtheben hingegen bezieht Körper u n d Geist mit ein. Man muß mit dem Kopf bei der Sache sein, denn ein schweres Gewicht über dem Kopf zu halten, das verlangt Courage.“ Viktor Parijer sieht in seinem Sport auch ein Mittel zur Charakterbildung: „Man wird fest. Durch kontinuierliches Training spürt man, daß der Körper stärker wird, und man bekommt Lust, immer besser zu werden.“
Seit den 1980er Jahren bietet AC Heros neben dem Gewichtheben auch Kraftdreikampf an, bestehend aus Bankdrücken, Kniebeugen und Kreuzheben. Sind das Vorstufen zum Gewichtheben? „Nein, das ist für Menschen, die Kraftsport betreiben wollen, aber nicht die fürs Gewichtheben notwendige Mobilität besitzen.“ Damit also zum Gewichtheben.

Reißen und Stoßen
Reißen (Foto privat)

Es werden zwei Techniken unterschieden: das Reißen und das Stoßen. „Beim Reißen wird das am Boden liegende Gewicht in einer einzigen Bewegung vom Boden bis in die Hochstrecke gebracht, beim Stoßen geschieht das in zwei Bewegungen.“ Im einzelnen bedeutet das für das Reißen: Der Athlet geht vor dem Gewicht in die Hocke und reißt es beim Aufrichten hoch und gibt ihm damit einen Aufwärtsschwung. Sobald die Hantelstange auf Brusthöhe ist, geht der Athlet erneut in die Hocke, taucht sozusagen unter das sich weiter nach oben bewegende Gewicht. Am Ende dieser durchgehenden Bewegung befindet sich das Gewicht in der Hochstrecke über dem Kopf und der Athlet in der Hocke (siehe Bild). Er hat jetzt beliebig viel Zeit, um sich aufzurichten, „aber je länger er unten bleibt, desto schwerer wird es für ihn aufzustehen, da die Blutgefäße in seinen Beinen abgedrückt werden“.

Das Stoßen beginnt in gleicher Weise; und auch hier geht der Athlet in eine zweite Hocke, legt die Hantelstange aber auf dem Schlüsselbein ab, während er sich wieder voll aufrichtet. Im zweiten Teil wird mithilfe eines Ausfallschritts oder einer leichten Kniebeuge das Gewicht in die Hochstrecke gebracht und der Körper erneut aufgerichtet (siehe Bild). „Das Reißen ist um 50 Prozent komplexer als das Stoßen. Es ist schneller und verlangt viel höheres Feingefühl und eine bessere Balance.“

Feingefühl? Eigentlich kein Begriff, der den meisten bei ‚Gewichtheben‘ einfällt, eher Kraft. „Natürlich braucht man Kraft, aber das ist nur einer der drei Bausteine des Gewichthebens; die anderen sind Technik und Mobilität.“ Die richtigen Technik dient nicht nur dazu, das Gewicht in die Höhe zu bringen, sondern auch, die besonders beanspruchten Gelenke von Knie, Schulter und Ellbogen möglichst wenig zu überlasten. Für die Mobilität ist Aufwärmen und Dehnen wichtig. „Das dauert 20 bis 25 Minuten, wir benutzen dafür zum Beispiel Gummibänder, Sprungseil und Spagat.“

Zum Verein

Der Verein wurde in den 1960er Jahren als Athletik Club Berlin gegründet. Seit der Fusion mit dem BC Heros in den 80er Jahren nennt er sich Athletik Club Heros. Seit jener Zeit bietet er für Männer und Frauen neben dem Gewichtheben auch Kraftdreikampf und Fitnesstraining an und für Frauen zusätzlich Sportgymnastik und Step-Aerobic sowie für Kinder und Jugendliche Athletiktraining. Der Verein wird ehrenamtlich geführt, und in ihm ist, wie Benjamin Burse betont, „jeder willkommen“.

Bearbeitete Fassung eines Berichtes, der zuerst im Heft Juni/Juli 2021 von KiezWilmersdorf erschien.

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