Verschwunden: Saalfelder Straße

Ein Nachruf

Als sie von der Bundesallee in die Saalfelder
Straße einbog, sah sie, dass die großen
Kastanienbäume dort den Krieg überstanden
hatten. Sofort ergriff sie ein Gefühl der
Geborgenheit und der Hoffnung, hier ein
neues Zuhause finden zu können.“*1

Der Anfang
Am 3.10.1912 wurde die Straße 18 seit 1885 eine Verbindung zwischen Koblenzer (damals Coblenzer) Straße und Bundesallee (Kaiserallee) längs des Dammes der Ringbahn – in Saalfelder Straße umbenannt. Sie erhielt ihren Namen allerdings nicht, um die Stadt Saalfeld/Saale im Thüringischen zu ehren, sondern weil dort 106 Jahre zuvor, am 10.10.1806, der preußische Prinz Louis Ferdinand*2 im sogenannten „Gefecht bei Saalfeld“ zu Tode gekommen war – vier Tage vor den eigentlichen Schlachten bei Jena und Auerstedt, in denen die preußischen Truppen eine schwere Niederlage gegen die napoleonischen erlitten.

Einst ein lebenswerter Ort
Hajo Engelmann erzählt:
„Meine Eltern waren mit mir 1952 in die Koblenzer Straße 12 gezogen. Neben unserem Haus standen zum Bahndamm hin noch die Häuser 12a und 13. Alle drei Häuser wurden später für die Stadtautobahn abgerissen. Kurz nach dem Einzug kam ich in die Schule am anderen Ende der Koblenzer, damals 11. Grundschule genannt.

Gegenüber auf der anderen Straßenecke stand eine einstöckige Ruine. Natürlich machte es besonderen Spaß, darin zu spielen, aber jeden Tag kam ein Schupo vorbei und verjagte uns immer aufs neue wegen der Einsturzgefahr. In den Höfen zu spielen bot sich hingegen nicht so an, denn sie waren sehr klein, und dauernd rief ein Erwachsener «Ruhe!» und verjagte uns auch von dort. Blieb also noch die Straße.

Auf der Saalfelder gab es eine kleine Fabrik von Reemtsma, Richtung Bundesallee, kurz vor der Weimarischen Straße. Ein weißer Hanomag kam mehrmals täglich für Lieferungen vorbei. Einer von uns rief dann «Auto», und alle sprangen beiseite. Erst Anfang der 60er Jahre wurden die ersten Privatautos in der Straße geparkt. In den 50ern war dieser Lieferwagen fast das einzige Fahrzeug in der Straße, die somit uns allein gehörte. Sie hatte eine ganz glatte Oberfläche, viel glatter als Asphalt oder Beton, und war daher zum Rollschuhfahren ausgezeichnet geeignet. Über einen dunkleren Fleck im Asphalt zu springen war eine selbstverständliche Herausforderung. Auch konnte man hier prima Roller fahren – nicht die mit den kleinen Rädchen wie heute, sondern mit richtigen Ballonreifen, dazu noch mit Gepäckträger und Seitentaschen daran. So ließen sich nicht nur Rennen auf dieser Straße, sondern auch richtige Touren bis in den Grunewald unternehmen.

Natürlich war der Belag der Saalfelder auch ausgezeichnet für Autorennen. Dazu bemalten wir Spielzeugautos, schrieben ihnen eine Nummer drauf und beschwerten sie mit Knetgummi. Wir kauften den «Silberpfeil» und andere bei Papier Kaiser in der Detmolder zwischen Weimarischer und Bundesplatz. Für die Rennen malten wir Bahnen auf die Straße und setzten die Wagen mit Abstoßen in Schwung. Oft genug wurden wir dabei von unseren Müttern gestört, die uns nach oben zum Essen riefen.

Bei Kaiser gab es auch Cowboy-Verkleidung für Faschingparties und Colts nebst Zündplätzchen als Munition. Wir spielten Cowboy auch auf der Straße, und Cowboyfilme sahen wir im Rheingau-Kino*3, im Eva oder im Bundesplatz-Kino. Unsere Helden hießen Fuzzy Jones und Lash LaRue, der mit einer Peitsche anderen Cowboys den Colt aus der Hand schlug.

Die Saalfelder Straße war nur auf der nördlichen Seite bebaut; auf der anderen Seite lag neben dem Fußweg ein breiter Streifen Gebüsch und dann ein Zaun, hinter dem die Böschung hinauf zu den S-Bahn-Gleisen ging. Die Büsche hatten es uns besonders angetan, denn wir konnten uns unter ihren Zweigen Höhlen bauen und den Boden mit Steinen zum Hinsetzen auslegen; Verpflegung hatten wir auch dabei, wenn wir uns dort im Jungenclub «KaDeKaS» (Klub der Koblenzer Straße) trafen. Der Club bestand aus Winnie, Bubi, Dicker, Lutz und mir. Und wenn wir eine Abwechslung brauchten, nahmen wir unsere Roller und fuhren zu unserem «Räuberwäldchen» an der Ecke Schorlemer Allee/Englerallee am Breitenbachplatz. Auch hier gab’s viele Verstecke und Klettermöglichkeiten.

Die Mädchen hatten ihre eigenen Spiele: Puppen und Hopse und so. Aber gelegentlich wurde auch gemeinsam gespielt, wie etwa Suchen, das sie «Banner» nannten: Einer stand im «Bannkreis», d.h. an dem dicken Ahorn an der Ecke zur Koblenzer gleich am Bahndamm, während sich die anderen versteckten. Das Suchen konnte schon mal mehr als eine Stunde dauern, wenn sich welche in einem der Keller versteckt hatten und der Sucher mit einer Taschenlampe im Finstern herumlief. Ein anderes gemeinsames Spiel war das Murmelspiel. Meist wurde dafür ein großes Loch nahe dem dicken Baum gegraben. Der Sieger durfte alle im Loch liegenden Murmeln behalten. Wer gut spielte, hatte oft einen vollen Stoffbeutel als Trophäe.

Neben dem Ahorn standen noch zwei Pflaumenbäume, sehr gut zum Klettern – auch einige Mädchen waren dabei –, aber er war zu klein für ein Baumhaus, das wir zu bauen geplant hatten. Die Früchte aßen wir immer schon, wenn sie noch grün waren, ohne je dabei Bauchschmerzen zu bekommen. Einer der beiden Bäume hatte eine Aushöhlung, die wir vergrößert hatten, um uns Nachrichten zu hinterlassen wie «Kann nicht kommen – Stubenarrest».

Die Saalfelder war in den 50er Jahren für uns der wichtigste Spielplatz nach der Schule und wahrscheinlich der wichtigste Ort auf der Welt.“

Als Stadtautobahn
1960 war die Stadtautobahn bis an die Detmolder Straße herangeschoben worden, so daß auf dem Stadtplan bereits erkennbar war, daß die Saalfelder an ihrem Ende stand. 1968 wurde schließlich ihr Name aus allen Verzeichnissen gestrichen, weil sie dem Ausbau der Stadtautobahn hatte weichen müssen. Der Bebauungsplan IX-81 vom 18.6.1964 trägt die Unterschrift des damaligen Bausenators Rolf Schwedler (SPD), der damit seine „Vision einer autogerechten Stadt wie Los Angeles“ weiter umsetzte (siehe auch: „Stadtplanung als Verkehrsplanung“).
Außer ihr fielen in den 60er Jahren weitere Straßen der Stadtautobahn zum Opfer: der größte Teil der Bernhardstraße, von der nur noch zwei kleine Stummel, die von der Wexstraße abzweigen, übriggeblieben sind; die Rheydter Straße (Straße 14), die westlich der Blisestraße am Bahndamm entlang geplant war; die Saldernstraße in Charlottenburg.

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(1) So heißt es in einer Szene, die kurz nach Kriegsende spielt, auf S. 340 in dem Roman „Sippenhaft. Das Erbe meines Vaters“ von Michael Kromarek. [zurück]

(2) Prinz Louis Ferdinand (1772-1806) ist jedoch eher als Komponist bekannt, dem Ludwig van Beethoven 1804 sein 3. Klavierkonzert in c-Moll gewidmet hatte, weil er von seinem Klavierspiel beeindruckt gewesen war. [zurück]

(3) Das Rheingau-Theater lag am Bergheimer Platz im Gemeindesaal der St.-Marien-Kirche. Es schloß nach dreißig Jahren 1961 wegen Besuchermangels. [zurück]

1 Kommentar zu „Verschwunden: Saalfelder Straße“

  1. Eine rührende Geschichte aus der „Kinderspielzeit“.
    Habe in den 50’er Jahren auch noch in den Trümmern und Ruinen in Zehlendorf gespielt.
    Mein Grossvater hatte in den Ruinen immer noch wertvolles Material zum Bauen gefunden.
    Auch wir konnten noch auf der Strasse Völkerball spielen.

    Danke für den Bericht, lieber Michael
    Rudolf

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